Zeit der Bewährung? Mitnichten!

Rechtsanwalt Dr. Nik Sarafi

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Das Editorial der 6. Ausgabe (Dezember 2020) der Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht aus dem Dezember 2020 trägt den Titel „Zeit der Bewährung“: Prof. Dr. Markus Ruttig äußert darin, dass sich die Glücksspielanbieter vor dem Hintergrund des voraussichtlich zukünftigen 4. Glücksspieländerungsstaatsvertrag (GlüStV 2021) bereits heute „bewähren“ müssten.

Infolge des Umlaufbeschlusses der Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder vom 8. September 2020 dürften „die derzeit generell verbotenen, aber voraussichtlich ab dem 1.7.2021 erlaubnisfähigen Online-Automaten- und Pokerspiele weiterhin veranstaltet werden“, sofern die Anbieter die nach dem Umlaufbeschluss Gemeinsamen Leitlinien der obersten Glücksspielaufsichtsbehörden berücksichtigt werden würden.

Hier wird etwas verkannt. Denn unter Bewährung stehen nicht die Online-Glücksspielanbieter. Bewährung setzt nämlich ein vorangegangenes Fehlverhalten voraus. Die Veranstaltung von Online-Glücksspiel in Ausübung der europäischen Dienstleistungsfreiheit mit einer Lizenz aus einem anderen Mitgliedstaat aber ist legal. An der materiellen Rechtslage kann – wie der wissenschaftliche Dienst des Bundestages und die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main ebenso bestätigten – auch der Umlaufbeschluss nichts ändern.

Wiederholtes Fehlverhalten ist lediglich den Bundesländern vorzuwerfen, die in den vergangenen Jahren mehr als einmal unionsrechtswidriges Glücksspielrecht in Kraft setzten. Daher sind es wenn überhaupt die Bundesländer, die jetzt die Chancen haben, sich zu bewähren – nicht umgekehrt.

Das derzeitige Angebot von Online-Glücksspiel ist nicht illegal

Wer derzeit in Deutschland Online-Glücksspiele mit einer Lizenz aus einem europäischen Mitgliedstaat veranstaltet, übt damit seine in Art. 56 AEUV geregelte europäische Dienstleistungsfreiheit aus. Aus § 4 Abs. 4 GlüStV – wonach die Veranstaltung von Glücksspielen im Internet verboten ist – kann den Anbietern keinen Vorwurf gemacht werden, weil § 4 Abs. 4 GlüStV unionsrechtswidrig ist: § 4 Abs. 4 GlüStV ist nach hiesiger Auffassung ein (unions)rechtswidriges Gesetz. Sachlich ist das weitgehende Internetverbot nicht zu rechtfertigen, da Online-Glücksspiel hinsichtlich der Gefahr des Entstehens von Glücksspielstörungen nicht gefährlicher ist als terrestrisches Glücksspiel. Das haben die Länder wohl auch selbst eingesehen, da sie ansonsten mit dem künftigen GlüStV dieses Totalverbot für Online-Glücksspiel nicht aufheben würden. Es bleibt zu betonen, dass insbesondere in Hinblick auf die geplante Legalisierung durch den GlüStV 2021 § 4 Abs. 4 GlüStV nicht länger haltbar ist: Es ist widersprüchlich, einerseits die Erforderlichkeit der Legalisierung von Online-Glücksspiel durch eine kontrollierte Marktöffnung zu fordern, andererseits aber zu behaupten, das Totalverbot des § 4 Abs. 4 GlüstV sei nach wie vor zur Zielerreichung der in § 1 GlüStV genannten Ziele geeignet, erforderlich und angemessen.

Und auch der Umlaufbeschluss, der § 4 Abs. 4 GlüStV zwar nicht außer Kraft setzt – und dies auch gar nicht kann – und entgegen der weitverbreiteten Meinung auch keine Duldung von Online-Glücksspiel bedeutet, verdeutlicht doch durch die intendierte geänderte Verwaltungspraxis, dass Online-Glücksspiel nicht als derartig gefährlich behandelt wird, wie es von § 4 Abs. 4 GlüStV eingestuft wird.

Der Umlaufbeschluss als unionsrechtswidrige Verwaltungsvorschrift

Der Umlaufbeschluss hat quasi keine Bedeutung – es handelt sich bei ihm um eine bloßere Verwaltungsvorschrift, welche keine unmittelbare Außenwirkung entfaltet und keinen Einfluss auf die materielle Rechtslage hat (https://www.isa-guide.de/isa-law/articles/211263.html). Würde man dem Umlaufbeschluss eine materiell-rechtliche Bedeutung zusprechen, so liefe das auf die Umgehung eines der höchsten rechtsstaatlichen Grundprinzipien hinaus: Die Gewaltenteilung.

Der Umlaufbeschluss bezieht sich auf einen Gesetzesentwurf, der gar nicht in Kraft getreten ist.

Auch in zukünftigen Konzessionsverfahren darf die Umsetzung der Gemeinsamen Leitlinien und des Umlaufbeschlusses nicht zum Maßstab gemacht werden, da eine derartige faktische Vorverlagerung des Beginns eines Konzessionsvergabeverfahrens ohne Konzessionsbekanntmachung vergaberechtswidrig wäre.

Zuletzt ist der Umlaufbeschluss in Verbindung mit den Gemeinsamen Leitlinien selbst unionsrechtswidrig, da letztere gegen die Richtlinie RL (EU) 2015/1535 verstoßen. Die Richtline verfolgt den Zweck, bei nationalen Maßnahmen zur Erstellung von technischen Vorschriften die größtmögliche Transparenz zu gewährleisten, um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu garantieren.

Zulässig sind Handelsbeschränkungen aufgrund technischer Vorschriften deshalb nur, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen zu genügen, und wenn sie einem Ziel allgemeinen Interesses dienen, für das sie eine wesentliche Garantie darstellen. Zudem müssen alle Mitgliedstaaten über die von einem Mitgliedstaat geplanten technischen Vorschriften durch öffentliche Bekanntmachung rechtzeitig informiert werden. Über den Umlaufbeschluss in Verbindung mit den Gemeinsamen Richtlinien wurde die europäische Kommission nicht unterrichtet, auch die Veröffentlichung als PDF auf der Unterseite „Gemeinsame Geschäftsstelle Glücksspiel“ unter der Rubrik „Aktuelles“ auf der Website des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Sport reicht nicht für eine ordnungsgemäße Bekanntmachung aus. Die Behörden dürfen Unternehmen, die sich nicht an den Umlaufbeschluss in Verbindung mit den Gemeinsamen Leitlinien halten, unter Bezugnahme darauf in späteren Konzessionsverfahren deshalb nicht benachteiligen.

Nichtbeachtung des Umlaufbeschlusses oder des geltenden GlüStV führt zu keinen Sanktionen

Die europäischen Glücksspielanbieter haben deshalb angesichts des Umlaufbeschlusses nichts zu befürchten. Jedenfalls dürfte, hielte man sich streng an das Gesetz, das Nichtbeachten des Umlaufbeschlusses nicht zur Unzuverlässigkeit der Anbieter führen. Die Veranstaltung von Online-Glücksspielen ist rechtlich nicht zu beanstanden, und selbst wenn – wie bei den Behörden davon auszugehen ist – § 4 Abs. 4 GlüStV als unionsrechtsmäßig behandelt wird, müsste nicht bereits jetzt, sondern erst mit der Abgabe der Bewerbung im Konzessionsvergabeverfahren seitens der Unternehmen dargelegt werden, dass diese in Zukunft sich nicht rechtsbrüchig verhalten werden. Die rechtmäßige Ausübung der europäischen Dienstleistungsfreiheit durch die Glücksspielanbieter darf jedenfalls nicht sanktioniert werden, und wer nichts zu Schulden kommen lässt, muss sich auch nicht bewähren.

Im Grunde bietet der Umlaufbeschluss die Möglichkeit, durch das Anbeiten von Online-Glücksspiel und dadurch durch die Missachtung des § 4 Abs. 4 GlüStV, dennoch als zuverlässig beachtet zu werden. Daraus folgt aber nicht, dass die Missachtung des Umlaufbeschlusses per se zur Unzuverlässigkeit führt. Nochmal: Die Missachtung eines „Stück Papiers“ ohne materiell-rechtlichen Inhalt, welches sich auf nicht in Kraft getretenes Recht bezieht, kann keine Unzuverlässigkeit begründen. Da aber mit dem Umlaufbeschluss und mit dem geplanten GlüStV 2021 klar wird, dass Online-Glücksspiel möglich sein muss, dürfte auch der Verstoß gegen § 4 Abs. 4 GlüStV keine Unzuverlässigkeit der Anbieter herbeiführen.

Wiederholtes Fehlverhalten der Bundesländer bei der Glücksspielgesetzgebung

Auch wenn die Bundesländer und die in ihren Interesse agierenden Rechtsanwälte dies ungern hören: Wer sich ein wiederholtes Fehlverhalten vorwerfen lassen muss, sind die Bundesländer. Um nochmal das oben gesagte aufzugreifen – es ist „die Zeit der Bewährung“ der Bundesländer.

Denn in der Vergangenheit haben diese sich deutlich mehr als einmal für unionsrechtswidrige Glücksspielregulierungen ausgesprochen. Sowohl der Lotteriestaatsvertrag aus dem Jahr 2004 als auch der erste, der zweite und der dritte GlüStV waren deshalb immer wieder Gegenstand berechtigter Kritik. Der geltende GlüStV krankt dabei nicht nur an der Unionsrechtswidrigkeit des § 4 Abs. 4 GlüStV, sondern auch das Sportwett-Konzessionsverfahren nach dem 3. GlüStV ist und bleibt unionsrechtswidrig – das Verwaltungsgericht Darmstadt hatte das Vergabeverfahren deshalb Anfang April 2020 deshalb gestoppt.

Auch der GlüStV 2021 ist Unionsrechtswidrig

Die Erwartung, dass mit dem GlüStV 2021 endlich ein unions- und verfassungsmäßiges Glücksspielrecht geschaffen wird, wurde bereits bei der Veröffentlichung des Entwurfs enttäuscht: Aus den vorangegangenen Fehlern haben die Autoren nur wenig gelernt. Auch der GlüStV 2021 ist nicht an den in § 1 GlüStV 2021 genannten Zielen, insbesondere denen des Jugend- und Spielerschutzes und der Kanalisierung orientiert. Der GlüStV 2021 missachtet die vom EuGH mehrfach formulierten Anforderung an ein unionsrechtskonformes Glücksspielrecht, zahlenmäßige Beschränkungen seien nur zulässig, wenn diese primär dem Schutz der Sozialordnung dienen und nicht fiskalische Interessen in den Vordergrund stellen. Deshalb ist der GlüStV 2021 von einer kohärenten und systematischen Begrenzung des Glücksspielangebots zugunsten des Jugend- und Spielerschutzes weit entfernt (siehe dazu ausführlich https://www.isa-guide.de/isa-law/articles/209506.html, https://www.isa-guide.de/isa-law/articles/209875.html, https://www.isa-guide.de/isa-law/articles/209926.html).

Es ist deshalb dringend an der Zeit, dass die Bundesländer sich bewähren und von ihrer Praxis, unionsrechtswidrige Glücksspielregulierungen in Kraft zu setzen und ihre eigenen Interessen zu verfolgen, abrücken. Anstatt eines weiteren unionsrechtswidrigen Gesetzes, das vermutlich von den Gerichten kassiert werden wird, wäre endlich ein die europäischen Grundfreiheiten beachtendes und an den Zielen des § 1 GlüStV tatsächlich ausgerichtete Glücksspielrecht von Nöten.