EuGH-Vorlage Online-Casinoverbot und Lotteriewetten – Update: EuGH-Vorlagebeschluss ergänzt

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Sozietät Redeker Sellner Dahs
Willy-Brandt-Allee 11
D - 53113 Bonn
Der Vorlagebeschluss ist in Malta grundsätzlich öffentlich einsehbar. Hier können Sie den Beschluss als PDF Dokument herunterladen: EuGH-Vorlagebeschluss (Englisch)

In Windeseile hat sich die Nachricht unter Glückspielanbietern ebenso wie Spielerklägeranwälten verbreitet: Was über sechs Jahre hinweg kein deutsches Gericht für nötig hielt, hat das erste damit befasste maltesische Gericht gleich auf Anhieb getan.

Damit besteht endlich die Möglichkeit für den Europäischen Gerichtshof, die in vielerlei Hinsicht fragwürdige deutsche Rechtslage zum Online-Casinoverbot in der Zeit des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrags zu überprüfen.

„Endlich Rechtssicherheit!“ – so lautet der Kommentar der verfahrensführenden Kollegen auf Spielerklägerseite. Doch er hätte ebenso gut von der Glücksspielindustrie stammen können. In unzähligen Spielerklagen haben die Anwälte von Anbietern bislang vergeblich versucht, die Zivilgerichte zu einer Vorlage an den EuGH zu bewegen.

Trotz hunderter gerichtlicher Entscheidungen hat sich keines der deutschen Zivilgerichte hierzu veranlasst gesehen. Dabei handelt es sich bei der Möglichkeit des Vorabentscheidungsverfahrens als Teil der Instrumente zur Sicherstellung einer einheitlichen Wirksamkeit des Unionsrechts um die bedeutendste Verfahrensart des AEU-Vertrags. Die deutschen Gerichte waren bislang indessen durchweg der Meinung, sich über die durch den EuGH gesicherte Rechtsprechung hinwegsetzen zu können, ohne vorlegen zu müssen.

Dies allein gibt zu denken. Mitunter konnte der Eindruck entstehen, als sei die Klärung nicht gewollt. Ebenso wenig klingt es wie eine Erfolgsstory des europäischen Einigungsprozesses, wenn von deutschen Zivilrichtern bis hin zu solchen an Oberlandesgerichten ungeschminkt zu hören ist, dass das EU-Recht ja wohl kaum deutsches Gesetzesrecht außer Kraft setzen könne. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und seine Bedeutung ist offenbar zum Teil Jahrzehnte nach Beginn des Prozesses der europäischen Union ein Fremdwort.

Selbst das Bundesverwaltungsgericht meinte, ungeachtet seiner für klärungsbedürftige Fragen des Gemeinschaftsrechts unstreitig bestehenden Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV und trotz der damals schon vorliegenden umfänglichen, ebenso klaren wie für Deutschland unrühmlichen Judikatur des EU-Gerichtshofs zur deutschen Rechtslage, ein klagabweisendes Revisionsurteil fällen zu können, ohne zuvor den Gerichtshof anzurufen. Zur Sportwette ließ sich die Vorlage noch geschickt mit dem Hinweis umschiffen, dass die Klägerin das damals mögliche Erlaubnisverfahren nicht betrieben habe. Aber zumindest zum Online-Casino drängte sich die Vorlage schon damals unter zahlreichen Aspekten auf. Immerhin lagen die Brüche der Gesetzgebung offen zu tage, trat das Versagen des Onlineverbotes offen zutage und war der Nachweis seiner Eignung nicht erbracht. Von daher bedurfte es juristischer Verrenkungen, die Rechtslage vor der Verabschiedung des GlüStV 2021 dennoch als unionsrechtskonform zu begründen. Wie ein Ruhmesblatt rechtsstaatlichen Wirkens wirkte dieses Urteil daher ebenfalls nicht.

Nun gelangen die zu klärenden Rechtsfragen endlich dorthin, wo sie hingehören. Die Problemstellungen lassen sich inhaltlich wie folgt zusammenfassen:

  1. Fehlende wissenschaftlichen Nachweise:

    Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung hat der Mitgliedsstaat (s. nur EuGH C-148/15, Rz. 35; C-316/07; C-42/02) wissenschaftliche Nachweise für die Gefährdungen beizubringen, auf die er sich beruft. Diese müssen sich auch auf Eignung, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Beschränkungen zur Erreichung der von ihm angestrebten Ziele beziehen.

    Wie also soll diese Rechtfertigung gelingen, wenn die internationale Forschung schon lange vor Inkrafttreten des GlüStV 2021 die Eignung der Verbotspolitik zur Förderung der Schutzziele für den Verbraucher nie belegen konnte? Mehr noch: Dass die Rechtslage ungeeignet war, steht explizit in der Begründung zu GlüStV 2021, wenn es dort heißt: Trotz des Internetverbots habe sich ein Schwarzmarkt im Internet gebildet (S. 1 der Erläuterungen zum GlüStV 2021).

  2. Aufgabe der Differenzierung zwischen Online und Offline durch die gesetzliche Regulierung des 1.GlüÄndStV:

    Wie kann und soll in Deutschland für die Zeit vor dem 1.1.2021 noch von einer systematisch und kohärent auf den Schutz des Verbrauchers ausgerichteten mitgliedsstaatlichen Politik ausgegangen werden, wenn der Gesetzgeber einerseits bei Online-Casinospielen Prohibition für erforderlich erachtete, aber zugleich für alle übrigen Glücksspielarten die Regulierung zur Kanalisierung für ausreichend hielt? Widersprach sich ein solches auf das Internet beschränkte Verbot als höchstmöglicher Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit nicht mit einer Gesetzgebung und Verwaltungspraxis, die für entsprechende terrestrische Angebote im gleichen Zeitraum Erlaubnisse erteilte und diesen den flächendeckenden Vertrieb im ganzen Bundesgebiet ermöglichte ? Wie wollte dieser Gesetzgeber sich noch glaubwürdig auf die (frühere) Differenzierung zwischen Online- und Offlineregulierung berufen, wenn er diese doch für fast alle Glücksspielarten aufgegeben hatte, indem er für Sportwetten, Pferdewetten und Lotterieangebote den Vertrieb online und offline nebeneinander zuließ (EuGH Zeturf) und nur Casinospiele hiervon ausnahm?

    Zwar hatte der Gerichtshof selbst eine solche Differenzierung früher abgesegnet (EuGH Liga Portuguesa, Zeturf u.a.), sich dabei aber immer auf entsprechende Einschätzungen und Regulierungen der Mitgliedsstaaten berufen. Seine Beurteilung stützte also nicht auf eine eigene Gefahrenbeurteilung. Wenn der mitgliedsstaatliche Gesetzgeber nun – wie in Deutschland – von ebendieser pauschalen Gefahrenbeurteilung großenteils abrückte und nunmehr die Auffassung vertrat, dass der „erhöhten Gefährlichkeit des Internet“ mit Zulassungen bei erhöhtem Schutzniveau der Anforderungen beizukommen war, wie wollte er für den Onlinevertrieb einer anderen Glücksspielart (Casino) noch das Gegenteil behaupten? Dies wirkte in diesem Kontext nun eher wie eine Schutzvorschrift für staatliche Spielbanken.

    Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Oktober 2017 (8 C 14/16; 8 C 18/16) begegneten all diesen Problemen mit dem gleichen Spagat wie der Gesetzgeber: Sie hielten an der Behauptung der angeblich generell erhöhten Gefährdung durch das Onlineglücksspiel fest, obwohl der Gesetzgeber diese mit dem 1.GlüÄndStV für zwei Drittel des Onlinemarktes aufgegeben hatte (Rn.30 ff).

    Inwieweit diese Behauptungen durch entsprechende Evidenz hinterlegt waren, wurde vom Bundesverwaltungsgericht nicht einmal im Ansatz hinterfragt. Angesichts des doppelten Widerspruchs der Behandlung sowohl anderer Glücksspielarten als auch der gleichen Glücksspielart terrestrisch in Spielhallen und -banken drängte es sich geradezu auf, dem Nachweiserfordernis des Mitgliedsstaates für die geltend gemachten Gefährdungen erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Stattdessen schlicht auf Aussagen in einer baden-württembergischen Landtagsdrucksache zu verweisen (BVerwG, 8 C 14/16, Rz. 30 f., 39), deren Grundlagen weder dem Revisionsgericht noch den Verfahrensbeteiligten bekannt waren, genügte dem nicht. Zumindest eine Zurückverweisung an die Vorinstanz zur Sachaufklärung oder eine EuGH-Vorlage zur Klärung der Nachweisanforderungen wäre angezeigt gewesen, um die kohärente Verfolgung eines legitimierenden Gemeinwohlzwecks für das Online-Casinoverbot feststellen zu können.

  3. Beschlussfassung über den GlüStV 2021 durch die Chefs und Chefinnen der Staats- und Senatskanzleien der Länder:

    War nicht spätestens mit der Verständigung der Bundesländer auf die Zulassung von virtuellen Automatenspielen für private Veranstalter sogar umgekehrt der Beweis dafür erbracht, dass nach der eigenen Beurteilung aller zuständigen Verwaltungen des Mitgliedsstaats Deutschlands die Eignung des Verbots, die Ziele zu erreichen, nicht vorlag und allein aus diesem Grund die Unionsrechtswidrigkeit und Unanwendbarkeit des Verbotes belegt? Wie will Deutschland als Mitgliedsstaat den nach dem Unionsrecht erforderlichen Gegenbeweis erbringen?

Vor dem Hintergrund dieser Problemstellungen überrascht es nicht, dass ein maltesisches Gericht diese Fragen jetzt – wenngleich in etwas anderer Ordnung und Priorisierung – gestellt hat. Das Gericht scheint dabei selbst von einer inkohärenten Regulierung und einem fehlenden Nachweis der Notwendigkeit der Prohibition zur Kanalisierung des Online-Casinospiels auszugehen. Und es bezweifelt offenbar, dass ein solches Verbot als verhältnismäßig gerechtfertigt werden könne – zumal der deutsche Gesetzgeber als Ziel seiner Regulierung in § 1 GlüStV 2021 u.a. bestimmt, dass beim Glücksspiel der „natürliche Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen“ gelenkt werden soll, um die Ziele des Minderjährigen- und Verbraucherschutzes zu betreiben und hieran die mitgliedstaatliche Regulierung dann gemessen werden muss.

Insgesamt sieben Vorlagefragen hat das Gericht dem Gerichtshof vorgelegt. Diese betreffen zum Teil auch die sog. Zweitlotterien. Dem wird von Seiten der deutschen Länder vermutlich eine erhöhte Aufmerksamkeit gelten, weil sie das besonders kritische Thema des Lotteriemonopols berühren, das den Dreh- und Angelpunkt jeder Regulierung seit der Verwerfung des seinerzeitigen Sportwettmonopols durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.03.2006 (1 BvR 1054/01) gebildet hat.

Dessen Rechtfertigung wird von den Vorlagefragen allerdings nicht offen in Frage gestellt. Aufgeworfen ist nur die Frage der Wirksamkeit des glücksspielrechtlichen Verbots der Wetten auf das Ergebnis der Lotterie (sog. Zweit- oder Sekundärlotterie). Insoweit besteht das Problem, das den Gefahren des Verbrauchers durch Veranstalterbetrug durch dessen Zulassung begegnet wird und den übrigen Gefahren durch die Zulassung und Überwachung im EU-Ausland, was ohne weiteres auch durch entsprechende Regulierung im Inland geschehen könnte. Nach der Vorlagefrage liegt hierzu kein hinreichender wissenschaftlicher Beleg für spezifische Gefahren von Online-Casinos und Lotteriewetten vor, die so gravierend sind, dass diese ein Verbot zu einem legitimen Beitrag für die Verfolgung der Ziele des Glücksspielstaatsvertrags machen könnten. Die Beweislast liegt beim Mitgliedsstaat. Und die hohen Anforderungen des EuGH für einen solchen Nachweis (EuGH C-148/15, Rz. 35; C-316/07; C-42/02) sind nicht erreicht.

Interessant und kreativ ist auch die Frage, ob nicht das Verbot des Rechtsmissbrauchs (EuGH C-423/15) einer bereicherungsrechtlichen Rückforderung entgegensteht, die sich allein auf eine fehlende deutsche Zulassung des Anbieters stützt, wenn doch der im EU-Ausland ansässige Anbieter im Einklang mit seiner Zulassung im Sitzland handelt. Sie könnte Grenzen einziehen für die klare Absage an eine Anerkennung EU-ausländischer Erlaubnisse in wie hier nicht harmonisierten Bereichen der Ausübung der Grundfreiheiten.

Bedeutsam ist dies alles besonders für die derzeit virulenten und die Gerichte landauf und landab beschäftigenden Spielerklagen gerichtet auf Rückforderung ihrer Einsätze. Sie dürften jetzt wohl ausgesetzt werden (müssen), um die Urteile des Gerichtshof abzuwarten.

Dass – dem Vernehmen nach erstmals in der Geschichte Maltas – ein dortiges Gericht die Klärung nun erzwingt, ist nicht ganz so überraschend, wie es auf den ersten Blick scheint. Das Land ist stark betroffen. Das Gros der Industrie hat hier seinen Sitz. Bei dieser dürfte die nun anstehende Klärung deshalb auch auf verbreitete Erleichterung stoßen. Immerhin spricht viel dafür, dass der Gerichtshof die Unionsrechtswidrigkeit der seinerzeitigen Rechtslage bestätigen wird. Die Vorlagefragen bringen die Problemstellungen gut auf den Punkt. Zudem sorgt ihre Verknüpfung dafür, dass es dem Gerichtshof schwerfallen dürfte, die Unionsrechtswidrigkeit nicht zu bestätigen, ohne seiner gesamten bisherigen Rechtsprechung zu widersprechen.

Von daher ist der Schritt ein Sieg wohl vor allem für die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Dass die unionsrechtliche Disziplin dabei ausgerechnet aus Malta herbeigeführt werden muss und damit ausgehend von einem Mitgliedstaat, der in Sachen Glücksspiel oft – zu Unrecht – ins Zwielicht gerückt wurde, ist eine gewisse Ironie des Schicksals.

Bonn, den 17.07.2023