Von dem Versuch der deutschen Gerichte, die europäische Rechtsordnung auszuhebeln

Ein Beitrag von Rechtsanwalt Rolf Karpenstein/Hamburg

„Das Unionsrecht wird sich durchsetzen“. Mit martialisch klingenden Worten endet der Artikel eines Mannes, der das Geschäftsmodell „Spielen ohne Risiko“ mit LegalTech auf die Spitze getrieben hat, um sich selbst zu bereichern und jetzt von der maltesischen Gesetzgebung ausgebremst wird.1 Die letzten Jahre sprechen gegen seien frommen Wunsch. In den „Spielerklagen“ hat sich das Unionsrecht nämlich vor deutschen Gerichten noch nie durchgesetzt.

Das war beim Glücksspiel allerdings nicht immer so. Ein kleiner Rückblick:

1999 hatte der EuGH in der Zenatti-Entscheidung klargestellt, dass eine Beschränkung im Bereich des Glücksspiels nicht angewendet werden darf, wenn damit in Wirklichkeit fiskalische Ziele, nicht aber legitime Ziele des Gemeinwohls verfolgt werden. 2004 ergänzte der EuGH in Gambelli, dass eine Beschränkung im Bereich des Glücksspiels nicht angewendet werden darf, wenn die angeblich verfolgten legitimen Ziele des Gemeinwohls nicht systematisch und kohärent verfolgt werden. Schon mit Blick auf diese beiden Urteile des EuGH müsste jede Spielerklage, die auf die Beschränkung des § 4 GlüStV gestützt wird, abgewiesen werden. Die deutschen Bundesländer verfolgen nämlich seit 1949 mit ihren eigenen Lotterieunternehmen, mit dem LotterieStV und dem GlüStV das Ziel der Gewinnmaximierung unter möglichst weitgehender Ausschaltung privaten Wettbewerbs. Die Beschränkungen im Lotteriestaatsvertrag und dem 2008 folgenden Glücksspielstaatsvertrag sind daher unanwendbar.

Viele deutsche Gerichte hatten die aus dem EU-Recht folgende Unanwendbarkeit der Erlaubnispflicht auch bestätigt. 2006 hatte sich das Bundesverfassungsgericht in 1 BvR 1054/01 bei der Auslegung der Verfassung an der Rechtsprechung des EuGH in Zenatti orientiert. Karlsruhe stellte klar, dass Beschränkungen im Bereich des Glücksspiels auch verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sind, weil in Wahrheit die Maximierung der Einnahmen, nicht aber legitime Ziele des Gemeinwohls verfolgt werden (1 BvR 1054/01, Rn. 144-146). Dass eine verfassungsrechtliche Übergangsfrist den Anwendungsvorrang nicht ausleben kann, bekräftigte der EuGH – auf Vorlage des aufrechten VG Köln – in dem Urteil Winner Wetten (EuGH C-409/06).

2013 hat das Bundesverwaltungsgericht erneut bekräftigt, dass die Bundesländer mit den Beschränkungen des GlüStV keineswegs die in § 1 GlüStV angegebenen Ziele, sondern in Wirklichkeit illegitime fiskalische Ziele verfolgen (BVerwG, 8 C 17.12, Rn. 60; 8 C 12.12, 8 C 10.12). Die Beschränkungen des Staatsvertrages dürfen gegenüber einem im EU-Ausland lizenzierten Anbieter von den deutschen Gerichten deshalb nicht angewendet werden. Auch der zehnte Senat beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof hatte bestätigt, dass die Beschränkungen des Staatsvertrages nicht angewendet werden dürfen, weil die Bundesländer damit in Wirklichkeit illegitime fiskalische Ziele verfolgen, sodass für einen Anbieter im Schutzbereich des freien Dienstleistungsverkehrs die Erlaubnisfreiheit nach deutschem Recht besteht (BayVGH, 10 BV 09.2259).

Nachdem schon die hessischen Verwaltungsgerichte 2012 – 2016 das Erlaubnisverfahren nach dem GlüStV wegen der zahlreichen Verletzung des Unionsrechts gestoppt hatten, bekräftigte der EuGH in Ince (EuGH, C-336/14) seine ständige Rechtsprechung seit Sporting Exchange und bestätigte, dass das deutsche System der vorherigen Genehmigung nicht angewendet werden darf, weil die beiden im Ausgangsverfahren entscheidungserheblichen Lizenzverfahren den unionsrechtlichen Vorgaben widersprechen. Mit Urteil vom Januar 2017 untermauerte dann sogar der Vierte Senat beim OVG Münster die unionsrechtliche Selbstverständlichkeit, dass einem Glücksspielanbieter aus dem EU-Ausland aus dem Fehlen einer zusätzlichen deutschen Erlaubnis keine Nachteile erwachsen dürfen (OVG NRW, 4 A 3244/06), weil das deutsche Erlaubnissystem den unionsrechtlichen Anforderungen widerspricht. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte in BVerwG 8 C 5.15 die Selbstverständlichkeit, dass die Rechtswidrigkeit des deutschen Lizenzverfahrens der Anwendung jeder Beschränkung entgegensteht, also auch einer Untersagungsverfügung oder Zwangsgeldern wegen des Fehlens einer deutschen Lizenz.

In der Vierklee-Entscheidung vom 1. April 2020 – also schon mitten im Lockdown der Freiheitsrechte – bestätigte das VG Darmstadt, dass das vom RP Darmstadt geführte Lizenzverfahren für Glücksspielanbieter genauso unionsrechtswidrig ist, wie zuvor das 2012 vom Hessischen Ministerium für Inneres und Sport begonnene Lizenzverfahren, dies mit der Folge, dass sämtlichen deutschen Gerichten die Anwendung des deutschen Erlaubnisvorbehaltes/Internetvertriebsverbotes gemäß Art. 56 AEUV verboten ist (VG Darmstadt, 3 L 446/20DA).

Die mit Spielerklagen befassten Senate bei den Oberlandesgerichten scheint das höherrangige Unionsrecht und ihre (bei Unterschreitung der Revisionssumme bestehende) letztinstanzliche Vorlagepflicht indes nicht zu interessieren. Dabei liegt auf der Hand, dass der frühere totale Ausschluss eines online-Casinoanbieters von einer deutschen Erlaubnis schon allein deshalb nicht mit den Zielen des Staatsvertrages gerechtfertigt werden könnte, weil in Wirklichkeit nicht die geschriebenen, sondern illegitime fiskalische Ziele verfolgt werden. Auch scheidet eine Rechtfertigungsmöglichkeit mit den Zielen des Staatsvertrages aus, weil die Bundesländer durch die schon Ende 2019 beschlossene Einführung eines Systems der vorherigen behördlichen Genehmigung bestätigt haben, dass zur Verwirklichung der Ziele des Staatsvertrages ein milderer Eingriff in den freien Dienstleistungsverkehr als das Totalverbot für Online-Casino möglich wäre. Zudem fehlt es an der Geeignetheit des Totalverbotes zur Verwirklichung der Ziele des Staatsvertrages. Die Kanalisierungsaufgabe des Staatsvertrages kann ein Totalverbot nämlich denknotwendig nicht erfüllen.

Die Verrenkungen der Oberlandesgerichte bei der Auslegung und Anwendung des höherrangigen Unionsrechts zu Spielerklagen sind meist abenteuerlich und allzu offenkundig allein von dem Ziel getragen, die Effektivität des Unionsrechts zu konterkarieren und eine einheitliche Tendenz aller OLgs herbeizuführen. Beispiel gefällig? Der fünfte Senat beim OLG Dresden formuliert im Urteil vom 10.5.2023 zum Anwendungsvorrang der Dienstleistungsfreiheit:

„Selbst wenn unterstellt würde, dass sich die deutsche Regelung des § 4 Abs. 4 GlüStV , die öffentliche Glücksspiele im Internet verbietet, als nicht unionsrechtskonform erweisen sollte, führte dies nicht zu einer Unanwendbarkeit der Regelung. § 4 Abs. 4 GlüStV war zum Zeitpunkt, als die streitgegenständlichen online Spiele angeboten und durchgeführt wurden, geltendes deutsches Recht. Diese Regelung ist nach ihrem Wortlaut eindeutig und kann schlechterdings nicht dahingehend ausgelegt werden, dass das Veranstalten öffentlicher Glücksspiele nicht verboten sein soll. Eine Auslegung gegen den Wortlaut verbietet sich.“

Anwendungsvorrangsleugnung

Vollkommen richtig hat Malta daher das Notwendige getan, um der Effektivität des Unionsrechts Rechnung zu tragen. Noch muss sich das Unionsrecht durchsetzen, auch wenn die Politik der Europäischen Union nicht immer auf dem rechten Wege ist. Ein Schritt in diese Richtung ist die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union durch ein aufrechtes maltesisches Gericht mit dem Ziel sowohl für die Spieler als auch für die im EU-Ausland lizenzierten und behördlich überwachten Dienstleister Rechtssicherheit zu schaffen und der Prozessökonomie Rechnung zu tragen. Eine schallende Ohrfeige für die deutschen Oberlandesgerichte? Das Unionsrecht jedenfalls wird sich durchsetzen, nicht bei den Oberlandesgerichten, sondern in Luxemburg.

1) https://www.gluecksspielwesen.de/wp-content/uploads/2023/07/HP_Gluecksspielwesen_Benedikt_Quarch-2.pdf

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