Kein Land in Sicht – Zu den Schlussanträgen des Generalanwalts im EuGH- Verfahren C-440/23 (FB ./. European Lotto and Betting Ltd und Deutsche Lotto- und Sportwetten Ltd)

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Sozietät Redeker Sellner Dahs
Willy-Brandt-Allee 11
D - 53113 Bonn

Die klärende Botschaft ist ausgeblieben. Die inhaltlichen Signale, die ihm im Netz zugeschrieben werden, Es hätte so schön sein können! Bald fünf Jahre beschäftigen die Spielerklagen deutsche Zivilgerichte. Trotz einer gut fünfstelligen Zahl von Verfahren gab es dennoch bislang kein klärendes Wort. Selbst der Bundesgerichtshof hatte mit seinem Hinweisbeschluss vom 22.03.2024 noch den Versuch unternommen, den Europäischen Gerichtshof auszuklammern.

Um so größer war die Erwartung, vom Generalanwalt mit seinen Schlussanträgen im maltesischen Vorlageverfahren zur Klage gegen die European Lotto und Betting Ltd und Deutsche Lotto- und Sportwetten Ltd ein erstes Signal zu vernehmen (Rs. C-440/23). Zahlreiche von einem maltesischen Zivilgericht vorgelegte unionsrechtlichen Fragen boten ihm Gelegenheit, sich dazu zu äußern, ob das Verbot von Zweitlotterien und virtuellen Automatenspielen mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Davon hängt ab, ob die Spieler ihre Einsätze auf Zweitlotterien und virtuelle Automatenspiele in Deutschland zurückfordern können.

Doch der Generalanwalt lässt die Fachwelt in der Sache völlig im Unklaren. Der Optimismus, der vereinzelt im Netz dazu von interessiertes Seite verbreitet wurde, entbehrt der Grundlage. Aus guten Gründen. Der Generalanwalt hat fundierte, durchdachte und prozessual aufschlussreiche Schlussanträge – mitunter sogar mit einem Schuss Humor gewürzt - vorgelegt. Viel spricht dafür, dass der Gerichtshof diesen folgen wird:

  • Konstruiertes Verfahren? Soweit Mitgliedsstaaten und Bundesrepublik Deutschland in ihren Stellungnahmen und Vorträgen noch darauf hinaus wollten, der Vorlage den authentischen Charakter und die Zulässigkeit abzusprechen, erteilt der Generalanwalt dem entsprechenden Versuch eine klare Absage. Ob das Verfahren konstruiert ist, spielt am Ende keine Rolle (Rn. 85), weil es jedenfalls eine reale Grundlage hat und das maltesische Gericht darüber entscheiden muss.

  • Urteil über Fremdrecht? Soweit Bedenken dagegen erhoben wurden, das Gericht eines Mitgliedsstaates richten zu lassen über die Gesetze eines anderen Mitgliedsstaates zeigt der Generalanwalt eingehend auf, dass die vermeintlichen völker- und europarechtlichen Überlegungen am Ende nicht tragen (Rn. 39 ff.)

  • Wohl aber gelangt der Generalanwalt zu dem Schluss, dass insoweit ein anderer Prüfungsmaßstab angebracht erscheint (Rn. 68 ff.). Im Binnenraum der Union gilt der Grundsatz loyaler Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten. Für das Gericht eines Mitgliedsstaates (hier: Malta) ist daher Zurückhaltung geboten, wenn es die Gesetze eines anderen Mitgliedsstaates (hier: Deutschland) auf deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht prüft. Erst wenn der Unionsrechtsverstoß offensichtlich erscheint, führt dies zur Unanwendbarkeit des Rechts des anderen Mitgliedsstaates.

  • Wohl aber gilt für die Spielerklagen im jeweiligen Mitgliedsstaat selbst (hier in Deutschland) die Selbstverständlichkeit im Geltungsraum des Unionsrechts, die in der Praxis eine solche vor deutschen Zivilgerichten nicht immer zu sein scheint: Gesetzesrecht, das gegen Unionsrecht verstößt, darf nicht angewendet werden. Der Generalanwalt bringt dies für die maltesische Vorlage in Rn. 92 auf den Punkt: „[Wenn] das deutsche Glücksspielrecht mit Art. 56 AEUV (offensichtlich) unvereinbar ist, [dann ist] die Herausgabeklage [eines solchen] Spielers als unbegründet abzuweisen. Denn dieses Glücksspielrecht wäre nicht anzuwenden, und der zwischen Spieler und Glücksspielunternehmen geschlossene Glücksspielvertrag könnte dementsprechend nach dem anwendbaren Vertragsrecht (vorliegend deutsches Recht) nicht als rechtswidrig und damit nichtig angesehen werden.“ Um Missverständnisse auszuschließen: Soweit das Original an dieser Stelle den Zusatz „offensichtlich“ enthält, bezieht dieser sich nur auf den judicial restraint der Rechtsprüfung deutschen Rechts durch ein maltesisches Gericht. Er gilt nicht für die Prüfung deutschen Rechts durch deutsche Zivil- oder Verwaltungsgerichte. Diese bleiben uneingeschränkt prüfverpflichtet. Dass die Praxis nicht immer diesen Eindruck erweckt, sei bemerkt.

  • Kein unionsrechtlicher Rechtsmissbrauch: Die Schlussanträge begründen schließlich überzeugend, dass die Spielerklagen keine Form des unionsrechtlichen Rechtsmissbrauchs darstellen, solange die Spieler sich nicht auf Unionsrecht berufen, sondern die Veranstalter (Rn. 90 ff.).

Doch damit endet auch schon der Klärungsumfang der Schlussanträge. Zur eigentlichen Kernfrage der Antworten auf die unionsrechtlichen Auslegungsfragen zu den Spielerklagen im Bereich des virtuellen Automatenspiels und der Sekundärlotterien dringt der Generalanwalt nicht durch. Dies nicht etwa aus eigenem Entschluss oder weil ihn gar der Mut verlassen hätte angesichts der z. T. durchaus schwierigen Fragestellungen

Vielmehr hat der Europäische Gerichtshof ihn selbst darum gebeten (siehe Rn. 20). Derartige Beschränkungen der Schlussanträge sind eher die Ausnahme. Dies könnte implizieren, dass der EuGH davon ausgeht, der Fall werfe insoweit keine neuen unionsrechtlichen Rechtsfragen auf (Art. 20 Abs. 5 EuGH-Statut). Was den Gerichtshof hierzu bewogen haben mag, regt durchaus zum Nachdenken an. Das Unwohlsein mit einer Klärung der Vereinbarkeit des deutschen Rechts mit dem Unionsrecht durch das Gericht eines Drittstaates und dies noch dazu auf der Grundlage eher mageren Stoffes aus Malta war schon in der mündlichen Verhandlung vom 9.4.2025 spürbar. Eine Vermutung könnte dahin gehen, dass er einem unklaren oder irreführenden Signal vorbeugen will. Dazu würde passen, dass er die mündliche Verhandlung in dem BGH-Vorlageverfahren schon auf den 24.09.2025 vorgezogen hat.

In der Summe deutet dies alles jedenfalls eher darauf hin, dass der Gerichtshof die Klärung der unionsrechtlichen Auslegungsfragen in den deutschen Vorlageverfahren sucht. Danach wäre selbst durch den Urteilsspruch in dem maltesischen Verfahren, der nach gewöhnlichem Verfahrensgang vor Jahresende unwahrscheinlich erscheint, mit einer Klärung der Rechtslage für die Problematik der Spielerklagen wohl nicht zu rechnen.

Damit rücken eine Lösung des Problems der Spielerklagen, der Zweitlotterien und des Lotteriemonopols aber in immer weitere Ferne. Denn die Probleme auf der Zeitschiene setzen sich fort:

Im BGH-Vorlageverfahren ist eine Klärung – wenn überhaupt – nur für die Sportwette zu erwarten. Denn die Fragen des BGH beziehen sich explizit nur auf diese und erfolgen insoweit auch vor durchaus spezifischem Hintergrund. Über deren Schicksal wird der Gerichtshof im Verfahren C-530/24 das letzte Wort sprechen. Selbst dieses dürfte erst Anfang nächsten Jahres fallen. Und dass es im Sinne der Spielerkläger ausfällt, gliche einer kleinen Sensation:

Die Auspizien stehen insoweit nämlich mehr für die Anbieter. Schließlich ist für die Sportwette mit dem Ince-Urteil das klärende Wort durch den Gerichtshof längst gesprochen – schon vor fast zehn Jahren (Urteil vom 04.02.2016 – C-336/14). Deutschland hat sich den Befund der Fortführung eines unionsrechtswidrigen (Sportwett-)Monopols damit längst abgeholt, weil das Konzessionsverfahren unionsrechtswidrig durchgeführt wurde. Bis hin zum Bundesverwaltungsgericht (u.a. Urteil vom 29.06.2017 – BVerwG – 9 C 7.16, Rn.34) wurde dies bestätigt. Dass das Fehlen der Sportwettkonzession den Veranstaltern deshalb strafrechtlich nicht entgegengehalten werden konnte, war der Tenor des Gerichtshofs in Sachen Ince. Dies gab damals auch für die Verwaltungsgerichte den Ausschlag. Zumindest straf- und verwaltungsrechtlich setzte sich das Angebot deshalb danach durch. Erst viel später ließen sich die Zivilgerichte bis hin zum BGH dazu hinreißen, sich insoweit eine abweichende Meinung zu bilden. Die Zivilgerichte meinten zwar meist, dies anders sehen zu können, weil ihre Beurteilung die Vertragsparteien auf Augenhöhe miteinander betrifft. Aus unionsrechtlicher Sicht dürfte dies zu kurz greifen. Es gilt die Einheit der Rechtsordnung. Und die Zivilgerichte stellen für die Union Träger öffentlicher Gewalt des Mitgliedstaates dar (s. etwa EuGH, Urt. v. 14.12.2000 – C-344/98 (Masterfoods) Rn. 49), die gegenüber dem Unionsbürger Hoheitsgewalt ausüben.

Vor diesem Hintergrund setzen die Spielerkläger bei der Sportwette verstärkt auf mögliche Einzelrechtsverstöße. Vorgelegt ist dazu bislang aber ersichtlich nur das Limitthema (Verfahren Tipico, Rs. C-9/25). Aber auch hier dürften die Prognosen eher zugunsten der Industrie ausfallen. Denn der Gerichtshof sieht sich u.a. mit der Frage konfrontiert, ob eine Regelung als Verbot mit Nichtigkeitsfolge unionsrechtskonform herangezogen werden kann, die sich an Behörden richtet und nicht an Veranstalter. Auch spricht das Gesetz nur von einem „Grundsatz“ und überlässt dessen Ausgestaltung der Erlaubnis. Es kann davon nach Maßgabe der Ziele des Staatsvertrags abgewichen werden. Nach einem Verbot, aus dem die Unwirksamkeit der Verträge hergeleitet werden könnten, klingt das nicht. Dies widerspräche den Geboten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit des Unionsrechts.

Ein Urteil des Gerichtshofs ist insoweit früher als Frühjahr 2027 aber kaum wahrscheinlich, da das Verfahren derzeit ausgesetzt ist.

Für andere Onlineangebote wie Onlinepoker und virtuelles Automatenspiel gilt dies erst recht. Denn auch diese Verfahren sind bislang ausgesetzt. In der Vorlage TSG Interactive Gaming Europe (Rs. C-898/24) steht in einem Verfahren das virtuelle Automatenspiel in der seinerzeitigen Phase des Totalverbotes auf dem Programm.

Noch spannender ist die Frage nach dem Schicksal der Sekundär- bzw. Zweitlotterien. Das maltesische Vorlageverfahren stößt insoweit unionsrechtlich in eine terra incognita. Doch der Generalanwalt nimmt dem Verfahren mit seinen Schlussanträgen leider den Wind aus den Segeln. Er empfiehlt, dem maltesischen Gericht als Prüfungsmaßstab die „Offensichtlichkeit“ der Unionsrechtswidrigkeit aufzuerlegen. Dieses soll Zurückhaltung beim Umgang mit dem fremden (hier deutschen) Recht üben. Die Hürde für ein EU-ausländisches Gericht läge generell deutlich höher, über das nationale Recht zu befinden. Konkret hieße dies, dass die Gefahr besteht, dass der Gerichtshof sich im maltesischen Verfahren zur deutschen Rechtslage noch nicht äußert, weil ihm die Aufbereitung nicht genügt, um eine solche Offensichtlichkeit anzunehmen. Die Fragezeichen der Rechtsöffentlichkeit würden so auf ferne Zukunft verschoben.

Sollte der Gerichtshof dem folgen, was nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung nicht ganz unwahrscheinlich ist, würde sich für das Rechtspublikum eine neue Bühne und einen weiteren Akt in dieser unendlichen Geschichte eröffnen. Denn natürlich wären die Frage nicht vom Tisch. Ein solcher Ausgang käme einer Aufforderung an die deutschen Gerichte gleich, nachzulegen. Eine entsprechende Vorlage ließe sich zügig nachholen. Und sollte nachgeschoben werden. Denn schließlich bliebe einstweilen – und damit leider doch noch einige Jahre –die Rechtslage offen und ungeklärt.

Freuen kann sich darüber kaum einer der Beteiligten. Die Einsätze in dieser Auseinandersetzung sind hoch. Nicht nur für die Spielerkläger, Prozessfinanzierer und Veranstalter.

Aber auch für die Länder steht einiges auf dem Spiel. Für sie geht es mit dem Lotteriemonopol ums Ganze. Gegen guten Rat haben sie sich dazu hinreißen lassen, die Lotterien dem gleichen Zielekanon zu unterwerfen und in den Glückspielstaatsvertrag einzubeziehen. Damit liegt die Kohärenzfrage auf der Hand und drängt sich die Parallele zu Carmen Media und Markus Stoß bis heute auf. Und die Reparatur kostet Zeit. Nicht auszuschließen also, dass auf politischer Ebene mancher erleichtert ist, wenn es nicht so schnell geht.

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert, Partner und Fachanwalt für Verwaltungsrecht

REDEKER SELLNER DAHS Partnerschaft von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten mbB Willy-Brandt-Allee 11 53113 Bonn Tel.: +49 228 72625-128 reichert@redeker.de www.redeker.de