Bundesverfassungsgericht vom 20.03.2009 – Wunsch und Wirklichkeit

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Sozietät Redeker Sellner Dahs
Willy-Brandt-Allee 11
D - 53113 Bonn
Wie so häufig, trügt der erste Eindruck. Das Echo von Ländervertretern auf den Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20.03.2009 – 1 BvR 2410/08 – wundert den, der den Beschluss gelesen hat. Der Triumph entspricht dem Wunsch mehr als der Wirklichkeit und steht im klaren Widerspruch zu der gemeinschaftsrechtlichen Realität:

  1. Gegenstand der Entscheidung ist allein die vom Beschwerdeführer gerügte Behandlung eines Eilantrages durch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht. Diese war verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht hat also gerade keine Entscheidung über die Verfassungskonformität des Sportwettmonopols gefällt.
  2. Mehr noch: Das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungsrechtliche Bewertung des Glücksspielstaatsvertrages für den Bereich von Sportwetten späterer verfassungsgerichtlicher Überprüfung auf der Grundlage von Hauptsacheverfahren vorbehalten (www.bundesverfassungsgericht.de: Rn.14, 29,46; zugleich BA S. 7,11, 13, 14).
  3. Der Beschluss der 3. Kammer (Papier, Bryde, Schluckebier) steht damit in deutlichem Gegensatz zu dem früheren Beschluss der 2. Kammer zur gewerblichen Spielvermittlung (Hohmann-Dennhardt, Gaier, Kirchhof), der für die Regelungen der Internet-Lotterievermittlung im Glückspielstaatsvertrag eine verfassungsrechtliche Beurteilung angestellt und diese als mit der Berufsfreiheit vereinbar angesehen hatte. Monopolinteressierte Kreise der Länder haben diesen bislang gern dahin deuten wollen, das Bundesverfassungsgericht sehe die Vereinbarkeit des Glücksspielstaatsvertrages mit der Berufsfreiheit auch für den Sportwettbereich, hier speziell auch die Verfassungskonformität des Wettmonopols als solchem, als geklärt an. Sie werden mit dem jetzigen Beschluss eines besseren belehrt.
  4. Dass der Glückspielstaatsvertrag bei verfassungsrechtlicher Prüfung der Ausgestaltung des Sportwettmonopols auf der Grundlage von Hauptsacheverfahren durchaus scheitern könnte, macht das Bundesverfassungsgericht ummissverständlich deutlich. Es hebt sogar hervor, dass für diesen Fall dem Beschwerdeführer eine Tätigkeit als Wettvermittler nicht (mehr) verwehrt wäre (Rn.46 – BA S. 14). Das Bundesverfassungsgericht lässt weiter im Volltext des Beschlusses überprüfungsbedürftige kritische Aspekte selbst anklingen (Regelungsdefizit angesichts unzureichender Regelungen zu Art und Zuschnitt zulässiger Sportwetten (Rn.43 – BA S. 13); noch nicht erfolgte Neuausrichtung der Kapazität des Annahmestellennetzes (Rn. 44 – S. 13)).
  5. Bemerkenswert ist dies alles, weil die Verfassungsbeschwerde eine Verletzung der Berufsfreiheit des türkischen Beschwerdeführers überhaupt gar nicht gerügt hatte (!). Sie stützte sich ausschließlich auf eine Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG. Auch die grundsätzliche Bedeutung als Annahmegrund war nicht geltend gemacht worden. Zu allen bestehenden Mängeln der Umsetzung des Sportwettenurteils hatte die Verfassungsbeschwerde mithin selbst gar nichts vorgetragen.

    Wenn das Bundesverfassungsgericht dennoch dazu einen so umfassenden Beschluss abgesetzt hat, wollte die dritte Kammer des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts offenbar einen Kontrapunkt zu dem früheren Nichtannahmebeschluss zur gewerblichen Spielvermittlung vom 14.10.2008 – 1 BvR 928/08 – setzen und Öffentlichkeit und Gerichten verdeutlichen, dass die bisherigen Äußerungen interessierter Kreise der Länder keineswegs der Sicht des Bundesverfassungsgerichts entsprechen.

    Fest steht danach, dass zumindest für den Sportwettbereich die Verfassungsmäßigkeit erst auf der Grundlage von Hauptsacheverfahren – etwa der beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Revisionsverfahren – geklärt werden wird.
  6. Hervorzuheben ist weiter der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab. Das Bundesverfassungsgericht hebt für die verfassungsrechtliche Beurteilung eben nicht auf die bloße Beseitigung des Regelungsdefizits ab. Maßstab ist vielmehr die „vollständige Konsistenz der rechtlichen und tatsächlichen Monopolausgestaltung“ (Rn. 24- BA S. 10).

    Nach dem Bundesverfassungsgericht darf die Ausgestaltung des staatlichen Sportwettmonopols also auch in tatsächlicher Hinsicht keine grundlegenden Defizite aufweisen (Rn. 24 und 44 – BA S. 13 unten unter bb)). Für die laufenden verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren ist dies umso wesentlicher, als dem Bundesverfassungsgericht in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zur tatsächlichen und rechtlichen Ausgestaltung des Sportwettmonopols jedweder Vortrag fehlte, weil die Verletzung der Berufsfreiheit gar nicht gerügt war.

    Was die gesetzlichen Regelungen anbetrifft, hat das Bundesverfassungsgericht das Oberverwaltungsgericht darin bestätigt, dass das „grundlegende Regelungsdefizit, welche die alte landesrechtliche Regelungslage kennzeichnet, als grundsätzlich behoben angesehen werden kann“. Es hat aber auch insoweit eine „eingehende verfassungsrechtliche Prüfung der neuen gesetzlichen Regelungslage“ angekündigt (S. 11).
  7. Im Hinblick auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen ist weiter hilfreich, dass das Bundesverfassungsgericht in aller Klarheit bestätigt, dass Altverfügungen aus der Zeit vor dem Sportwettenurteil des Bundesverfassungsgerichts als rechtswidrig zu beurteilen sind (S. 9), – jedenfalls solange sie nicht durch eine ergänzende Verfügung aufrechterhalten werden. Auch das wird von den Ländern bislang gern in Abrede gestellt. Eine solche ergänzende Verfügung, die ohnehin keine Heilung für die Vergangenheit bewirken kann, dürfte ausscheiden, wenn der Vermittler seine Tätigkeit am betreffenden Standort zwischenzeitlich eingestellt hat.
  8. Richtig ist allerdings, dass das Bundesverfassungsgerichts es verfassungsrechtlich nicht (mehr) beanstandet, wenn Gerichte, die eine gemeinschaftsrechtliche offene Rechtslage feststellen, dennoch das Aussetzungsinteresse von Wettbürobetreibern nicht höher gewichten als das staatliche Vollziehungsinteresse. Nur soweit die gemeinschaftsrechtlichen Bewertungen in Widerspruch zu ausdrücklich anders lautenden Aussagen des EuGH stehen, kann es bei seiner früheren Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.04.2005 – 1 BvR 223/05 bleiben, dass das Aussetzungsinteresse überwiegt. Die Ausführungen zur Interessenabwägung lassen sich ferner nicht übertragen auf Konstellationen, in denen Gerichte die Gemeinschaftsrechtskonformität nicht lediglich für offen erachten, sondern selbst erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der Rechtslage mit Gemeinschaftsrecht hegen. Gleiches gilt, wenn im konkreten Fall besondere Verhältnisse vorliegen, die die Interessengewichtung verschieben.
  9. Wenig seriös ist der Versuch von Westlottoanwalt Hecker, dem Bundesverfassungsgericht nunmehr eine eigene Beurteilung der Europarechtskonformität des deutschen Sportwettmonopols zu unterschieben. Insoweit werden die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts schlicht verdreht. Es heißt in dem Beschluss ausdrücklich, dass es „aus verfassungsrechtlicher Hinsicht [Hervorhebung durch Unterzeichner] auf eine Kohärenz und Systematik des gesamten Glücksspielsektors … grundsätzlich nicht ankommt“ (Rn. 17 – BA S. 8).

    Vor diesem Hintergrund ist es nicht vertretbar, aus den Formulierungen unter Rn. 53 (BA S. 16) herleiten zu wollen, das Bundesverfassungsgericht sei der Auffassung, ein gemeinschaftsrechtliches Erfordernis der Gesamtkohärenz könne es aus Gründen der Parallelität des Verfassungsrechts zum Gemeinschaftsrecht nicht geben. Vielmehr bezieht sich das Bundesverfassungsgericht unter Rn. 52 (S. 16, b aa) nur auf die Sportwettkohärenz, sodann unter Rn. 53 (unter bb) auf die Gesamtkohärenz und beanstandet für letztere gerade nicht, dass das Oberverwaltungsgericht für das Gemeinschaftsrecht davon ausgeht, dass es der kohärenten und systematischen Ausgestaltung des gesamten Glücksspielsektors bedarf.

    Auch die weiteren Ausführungen unter Rn. 54 zeigen, dass das Bundesverfassungsgericht allein eine verfassungsrechtliche Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Behandlung durch das OVG vorgenommen hat, und keine eigene Beurteilung. Geprüft hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang nur die Frage, ob das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 für den Eilrechtsschutz dadurch beeinträchtigt wird, dass trotz offener Gemeinschaftsrechtslage dem staatlichen Vollziehungsinteresse im Eilverfahren der Vorzug gegeben wird.
  10. Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die Praxis der laufenden Auseinandersetzungen in den Ländern ist von daher eher gering einzuschätzen. Aus Behördensicht ändert sich nichts an der haftungsrechtlichen Relevanz der gemeinschaftsrechtlichen Bedenken. Auch die Gerichte, die gemeinschaftsrechtliche Bedenken sehen, werden daran weiter festhalten und festhalten dürfen, weil der Beschluss sich dazu nicht verhält. Diejenigen Gerichte, die die deutsche Rechtslage und Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht für vereinbar halten, werden sich darin bestätigt sehen.