LG Erfurt statt BGH: EuGH-Vorlage Sportwettspielerklagen – „Il y a des Juges“

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Sozietät Redeker Sellner Dahs
Willy-Brandt-Allee 11
D - 53113 Bonn
Mit Beschluss vom 29.04.2024 – Az. 8 O 1125/23 – hat das LG Erfurt in einer Spielerklage zur Sportwette seine Absicht kundgetan, dem Europäischen Gerichtshof drei Grundsatzfragen zur Klärung vorzulegen. Der Beschluss in dem von REDEKER geführten Verfahren ist bei Beck-Online veröffentlicht (LG Erfurt, BeckRS 2024, 8815). Die beabsichtigten Vorlagefragen betreffen die zivilrechtliche Anwendbarkeit der Verbote des GlüStV auf Online-Sportwetten. Thematisch bezieht sich die angestrebte Klärung durch den EuGH auf drei Aspekte der Anwendbarkeit:

  • Anwendung von Erlaubnisvorbehalt und Internetverbot auf Online-Sportwetten trotz EuGH Ince?
    Da der EuGH im Ince-Urteil bestätigt hatte, dass das Fehlen der Konzessionen dem Veranstalter in dieser Zeit nicht entgegengehalten werden konnte und die Konzession das Recht beinhaltete, online anzubieten, stellt sich die Frage, ob dies nicht auch für das Internetverbot galt. Der BGH geht in seinem Hinweisbeschluss vom 22.03.2024 noch von dessen Anwendbarkeit aus.

  • Anwendbarkeit der Erlaubniserteilungsvoraussetzungen trotz Unanwendbarkeit des Erlaubnisvorbehaltes?
    Könnten – die Unanwendbarkeit des Erlaubnisvorbehaltes und Internetverbotes unterstellt – dennoch zumindest die Erlaubniserteilungsvoraussetzungen als Verbotsnormen gegenüber den Veranstaltern angewendet werden, obwohl sie sich an die Behörde richten und von dieser zum Teil – wie z.B. bei dem als Grundsatz formulierten Einsatzlimit – konkretisiert werden müssten? Auch hiervon geht der BGH in seinem Hinweisbeschluss vom 22.03.2024 aus.

  • Vorwurf des Rechtsmissbrauchs:
    Können die Spieler, die gegen das von ihnen geltend gemachte Verbot gleichermaßen verstoßen haben, ohne Verletzung des unionsrechtlichen Verbotes des Rechtsmissbrauchs am deutschen Verbrauchergerichtsstandort klagen, um sich ihre Verluste zurückerstatten zu lassen, nachdem sie die Leistung in Anspruch genommen und Gewinne behalten haben?

Alle drei Fragen stellen sich gleichermaßen in fast allen in Deutschland anhängigen Sportwettspielerklagen. Von daher hätte sich eine solche Vorlage schon lange aufgedrängt, auch und gerade für den Bundesgerichtshof, für den die Vorlagepflicht des Art. 267 AEUV gilt. Doch der BGH will diese bisher vermeiden, wie sein Hinweisbeschluss vom 22.03.2024 im Verfahren 1 ZR 88/23 in aller Deutlichkeit gezeigt hat.

Auch in Bezug auf Online-Casinos hatte der BGH im Januar 2024 von einer solchen Vorlage an den Europäischen Gerichtshof abgesehen und stattdessen beschlossen, die Vorlage eines maltesischen Gerichts abzuwarten. Schon das überraschte. Schließlich liegt es nicht nahe, dass sich das oberste deutsche Zivilgericht damit begnügt, Vorlagefragen eines erstinstanzlichen ausländischen Gerichts an den EuGH zur deutschen Rechtslage abzuwarten, anstatt eine eigene Klärung zu suchen. Es sah diese selbst zumindest zum Teil als vorgreiflich an. Sonst hätte es nicht aussetzen dürfen. Dann wäre aber eher zu erwarten gewesen, dass es eine eigene Vorlage formuliert und sicherstellt, dass der Europäische Gerichtshof auch alle Aspekte berücksichtigt und die gewünschte Klärung auch tatsächlich herbeiführt.

Das LG Erfurt spricht dies alles offen an und findet hierzu deutliche Worte:

„Es erscheint sinnvoll und geboten, sämtliche klärungsbedürftigen unionsrechtlichen Fragestellungen und Problemata – zu Online-Sportwetten im vorliegenden Fall wie zum verwandten Online-Casino in zahlreichen anderen anhängigen Fällen – vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, dem hier das letzte Wort zukommt.

Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Bundesgerichtshof ein bei ihm anhängiges Verfahren zum Online-Casino mit Blick auf eine Vorlage aus Malta aussetzt, nicht jedoch seinerseits den EuGH zur Sportwettenthematik anruft. Jedwede Begründung des Aussetzungsbeschlusses fehlt. Es erstaunt, dass in Deutschland mit teilweise hohem Aufwand dargelegt wird, warum man nicht vorlege oder vorlegen müsse, anstatt sich selbst an den Luxemburger Gerichtshof zu wenden. Es erstaunt, warum man auf die Antworten des Gerichtshofes zu einer Vorlage eines maltesischen Gerichts wartet, welche die deutsche Rechtslage auf den Prüfstand stellt und deren Zulässigkeit problematisch sein könnte. Die Berufung auf einen „acte clair“ oder einen „acte éclairé“ überzeugt jedenfalls nicht. Bekanntlich werden Vorlagen nicht unzulässig, selbst wenn im Einzelfall ein solcher „acte“ vorliegen sollte. Der Gerichtshof wird gleichwohl dem vorlegenden Gericht – im Rahmen des Kooperationsverhältnisses zwischen Gerichtshof und nationalen Gerichten – jedwede Hilfestellung geben, um den Ausgangsrechtsstreit unionsrechtskonform zu lösen. Im Übrigen erscheint zweifelhaft, dass die Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, um von einer Vorlage absehen zu können. Der Gerichtshof hat die Anforderungen an einen „acte clair“ bekanntlich vor kurzem zusammengefasst und akzentuiert. Dem genügt soweit ersichtlich kaum eine deutsche Entscheidung.

Gerade im hochkomplexen Glücksspielrecht bedarf es der Hilfestellung und Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Hier überlagern sich Unionsrecht und das Recht von 27 Mitgliedstaaten. Diese Querschnittsmaterie berührt Öffentliches Recht, Strafrecht, und seit kurzem auch verstärkt das Zivilrecht. Die Komplexität hat durch den Hinweisbeschluss des Bundesgerichtshofes vom 22. März 2024 noch zugenommen, dessen Prämissen und Folgerungen auf den unionsrechtlichen Prüfstand gestellt werden.

Jedes nationale Gericht ist Unionsgericht. Jeder Richter und jede Richterin eines Mitgliedstaates sind verpflichtet, dem Unionsrecht und den unional verfolgten Zielen des Gemeinwohls bestmögliche Wirksamkeit zu verleihen. Dies gilt insbesondere für die Grundrechte und Grundsätze der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 2 der Charta ausdrücklich zu fördern sind.“

(LG Erfurt, Hinweisbeschluss v. 29.04.2024 – 8 O 1125/23, BeckRS 2024, 8815, Rn. 1-5).

Ein Bundesgericht hätte das alles nicht staatstragender formulieren können. Bedauerlich nur, dass es das nicht getan hat und tun will.

Das LG Erfurt legt den Finger hier in die Wunde. Schon die übertriebene Zurückhaltung der Zivilgerichte ist schwer zu erklären. Die „zivilrechtlichen Rückzahlungsklagen im Glücksspielbereich“ entwickeln sich „zu einem weiteren Massenphänomen“. Allein aus Gründen der Prozessökonomie liegt es daher mehr als nahe, eine Klärung durch den Gerichtshof zu suchen. Denn das Klärungsinteresse besteht gleichermaßen für Spielerkläger und Glückspielveranstalter. Hätten sich die Instanzgerichte zu Beginn der Klagewelle zu einer solchen Vorlage bereitgefunden, läge die Klärung längst vor. Tausende gerichtliche Verfahren hätten vermieden werden können. Denn der Gipfel der Welle wurde erst 2023 erreicht. Instanz- und Obergerichte haben dies gleichwohl mit befremdlicher Beharrlichkeit vermieden und sich vom ersten damit befassten maltesischen Gericht den Schneid abkaufen lassen (s. Reichert, EuGH-Vorlage Online-Casinoverbot und Lotteriewetten, ISA-Guide, 17.07.2023, aufrufbar unter: https://www.isa-guide.de/isa-law/articles/277207.html).

Angesichts einer wohl fünfstelligen Zahl zivilgerichtlicher Auseinandersetzungen, die in den Gerichten aufgelaufen sind, erweckt dieses Verhalten den rechtsstaatlich bedenklichen Eindruck, als solle die Klärung aus Luxemburg vermieden werden.

Um so größer ist die Erleichterung, dass sich nun endlich eine Klärung auch bei der Sportwette abzeichnet und zwar sowohl in Bezug auf den Erlaubnisvorbehalt als auch das Internetverbot.

Welche Konsequenzen der Bundesgerichtshof hieraus allerdings zieht, bleibt abzuwarten. Der Unterzeichner ist zuversichtlich, dass dieser einsehen wird, dass es auch in der Außenwirkung besser wäre, den Klärungsbedarf anzuerkennen. Dass hier allerdings mit allem gerechnet werden muss, bringt der Beschluss des LG Erfurt recht unverhohlen zum Ausdruck:

„Es kann hier nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Bundesgerichtshof mittlerweile in zahlreichen Fällen zu Unrecht einen „acte clair“ oder einen „acte éclairé“ angenommen hat, was nur durch Vorlagen von Instanzgerichten korrigiert werden konnte (s. die Urteile des Europäischen Gerichtshofes vom 26.03.2020, C-66/19, vom 09.07.2020, C-698/18, vom 22.04.2021, C-485/18, vom 09.09.2021, C-33/20, und vom 09.09.2021, C-33/20). Besonders deutlich trat dies zum „Abgasskandal“ zu Tage.“

(LG Erfurt, Hinweisbeschluss v. 29.04.2024 – 8 O 1125/23, BeckRS 2024, 8815, Rn. 3).

Wer den Nachweisen nachgeht, wird fündig. Er wird feststellen, dass der Vorgang für den BGH ein Déjà-vu ist. Denn es war schon einmal ausgerechnet der BGH, den die Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV trifft, der im Kontext des Dieselskandals eine solche Vorlage vermied und von mutigen Instanzgerichten über den EuGH eines Besseren belehrt wurde. Diese riefen den EuGH an, der die Rechtslage klärte. Auch das LG Erfurt war in diesem Kontext beteiligt (Beschluss v. 15. Juni 2020, Az. 8 O 1045/18) und ließ das erste VW-Urteil des Bundesgerichtshofs (Az. VI ZR 252/19) vom Europäischen Gerichtshof auf dessen europarechtliche Konformität überprüfen. Der BGH musste seine Rechtsprechung ändern. „Il y a des juges“, nicht nur à Berlin, müsste es in freier Abwandlung der alten Lehrlegende des Müllers von Sanssouci heißen!

Die Reaktion im BGH-Verfahren folgte auf dem Fuße: Die beklagte Veranstalterin zog ihre Revision zurück. Denn natürlich obliegt die Klärung von Unionsrecht allein dem Europäischen Gerichtshof. Diesen jetzt abwarten zu wollen erscheint folgerichtig – gerade für einen europäischen Sportwettveranstalter. Denn dass sich eine solche Klärung beim BGH noch erreichen ließe, war nach dem Hinweisbeschluss eher nicht zu erwarten.

Damit droht den Prozessfinanzierern in den Spielerklagen ein Fiasko. Bislang konnte in den letzten Monaten der Eindruck entstehen, als träten diese einen Durchmarsch an. Dass dieser Trend sich bis zum Europäischen Gerichtshof durchträgt, wäre allerdings recht überraschend.

Denn im Grunde ist durch EuGH Ince alles gesagt:

  • Weil das Konzessionsverfahren unionsrechtswidrig durchgeführt wurde und die Sportwettveranstalter Konzessionen deshalb nicht erhalten konnten, darf ihnen der Konzessionsvorbehalt nicht entgegengehalten werden.

  • Anzunehmen, dass dies allein für das Strafrecht gilt, liegt fern. Der EuGH hatte nur über eine Vorlage eines Strafgerichtes zu entscheiden. Maßgebend für ihn waren aber lediglich die schon zuvor geltenden Anforderungen an einen wirksamen Erlaubnisvorbehalt aus der EuGH-Rechtsprechung (Carmen Media C-46/08, Rn. 86 f., Sporting Exchange C-203/08 u.a.m).

  • Und anzunehmen, dass für das Internet anderes gelten kann, wenn der Gesetzgeber für den Konzessionszeitraum doch gerade entschieden hatte, die Konzession für Online-Sportwetten und terrestrische Sportwetten gleichermaßen zu erteilen (§ 10a Abs. 4 Satz 1 GlüStV 2012), so dass die den Veranstaltern rechtswidrig vorenthaltene Konzession die Befugnis begründete, im Internet anzubieten, ist eine denklogische Zumutung.

Von daher wäre es eine große Überraschung, wenn der Europäische Gerichtshof nun plötzlich anderer Meinung wäre und entscheiden würde, für Online-Sportwetten müsste anderes gelten.

Vieles spricht dafür, dass die Spielerkläger-Anwälte ursprünglich selbst hiervon ausgegangen sind. Nicht von ungefähr betrafen ihre Klagen Sportwetten nur in seltenen Fällen. Es gehört zu den Schattenseiten von Massenverfahren, dass die Welle der klagabweisenden Urteile später auf die Sportwette überschwappen konnte, ohne die bestehenden rechtlichen Besonderheiten zu beachten. Damit dürfte es jetzt ein Ende haben.

Mehr noch: Die Prozessfinanzierer könnten am Ende vom Jäger zum Gejagten werden. Sie haben ihre Kampagne um Sportwettkunden jetzt von den social Media zuletzt sogar auf Fußballstadien ausgeweitet und dürften jetzt – je nach angewendetem Geschäftsmodell – gut beraten sein, ihre Wettkunden über bestehende Risiken aufzuklären, um nicht am Ende jenseits der verlorenen Prozesse Gegenansprüchen ausgesetzt zu sein.

Bonn, den 06.05.2024