Ein Artikel von Dr. Benedikt M. Quarch, M. A.
Seit deutsche und österreichische Gerichte in den vergangenen Jahren zahlreichen Spielern Rückforderungen aus nichtigen Online-Glückspielverträgen zugesprochen haben, wird allenthalben versucht, die Vollstreckung der Urteile zu verhindern. So geschehen insbesondere auf Malta, das als EU-Staat eigentlich zur Vollstreckung der Forderungen gemäß der Brüssel-Ia Verordnung (auch EuGVVO) verpflichtet wäre, aber 2023 die sog. Bill 55 erlassen hat. Diese regelt – wie der Autor dieser Zeilen an dieser Stelle schon ausführlich analysiert hat – prima facie einen Ausnahmetatbestand im Sinne des Art. 45 Abs. 1 lit. a) EuGVVO, nämlich dass die Vollstreckung der Urteile gegen die öffentliche Ordnung Maltas verstieße und daher zu untersagen ist. Bisher verhindert die Bill 55 praktisch die Vollstreckung der Urteile, eine Reaktion seitens der EU ist – abgesehen von der Mitteilung der Kommission, dass man die Sache prüfe und mit den maltesischen Behörden im Austausch sei – bisher ausgeblieben.1
Dies könnte sich nun aber ändern. Das Wiener Handelsgericht hat dem EuGH diverse Fragen zur Bill 55 im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV vorgelegt.2 Im anhängigen Verfahren geht es nicht um die Rückforderung eines Spielers gegen einen Online-Glückspielanbieter, sondern um ein von einem Prozesskostenfinanzierer in Auftrag gegebenes Gutachten, ob die Bill 55 mit Unionsrecht vereinbar ist oder nicht. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass die Bill 55 offensichtlich gegen Unionsrecht verstößt, der Prozesskostenfinanzierer ist aber im Gegensatz dazu mit der Realität konfrontiert, dass die Bill 55 derzeit ungestört zur Anwendung kommt, und verlangt das gezahlte Honorar zurück. Das Handelsgericht hat dem EuGH daher sechs Fragen zur Auslegung von Bestimmungen der Brüssel-Ia Verordnung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob die Bill 55 mit diesen vereinbar ist.3
Zunächst geht es um den Charakter des Art. 45 Abs. 1 lit. a) EuGVVO als Ausnahmetatbestand. Grundsätzlich müssen Urteile aus anderen EU-Staaten ohne weitere Prüfung anerkannt und vollstreckt werden, nur ausnahmsweise, wenn die Vollstreckung gegen die öffentliche Ordnung (ordre public) verstieße, darf die Vollstreckung versagt werden. Art. 56a Maltese Gaming Act sieht vor, dass Urteile gegen auf Malta ansässige Online-Glückspielanbieter gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, wenn die Anbieter eine maltesische Lizenz innehaben und im Rahmen dieser Lizenz gehandelt haben. In der Praxis sind davon fast alle Glückspielanbieter umfasst. Grundsätzlich ist der Begriff des ordre public sehr eng auszulegen (singularia non sunt extenda).4 Es spricht sehr viel dafür, dass der Ausnahmecharakter des Art. 45 EuGVVO einer so weitreichenden Regelung wie Bill 55 daher entgegensteht.
Zudem sieht Art. 46 EuGVVO vor, dass nur der Schuldner die Prüfung des Vorliegens eines ordre public Verstoßes beantragen kann. In Art. 56a Maltese Gaming Act ist hingegen vorgesehen, dass das Gericht bei Vorliegen der beiden Voraussetzungen das Urteil ex officio nicht anerkennen darf. Das Handelsgericht bittet daher den EuGH um eine Auslegung, ob der Art. 46 EuGVVO wirklich nur den Schuldner umfasst oder gegebenenfalls weiter zu verstehen ist. Auf den ersten Blick stehen diese Regelungen jedenfalls in einem eindeutigen Widerspruch.
Eine weitere Problematik ergibt sich bei dem Begriff der öffentlichen Ordnung. Der maltesische Gesetzgeber begründet den Verstoß gegen die öffentliche Ordnung Maltas damit, dass die Vollstreckung der Urteile die maltesischen Lizenzen und damit die maltesische Rechtsordnung untergraben würde. Zudem sei Malta gemäß seiner Verfassung dazu verpflichtet die private Wirtschaft zu fördern, also auch die Glückspielindustrie, die einen erheblichen Anteil an Maltas Wirtschaftsleistung ausmacht.5 Allerdings ist es fraglich, ob rein wirtschaftliche Motive die öffentliche Ordnung ausreichen. Der EuGH hat das in einem früheren Urteil verneint.6 Denn die Mitgliedstaaten dürfen zwar selbst festlegen, was in ihrem Staat die öffentliche Ordnung darstellt, allerdings wacht der EuGH über die Grenzen der Auslegung, da sonst die Gefahr bestünde, dass die Grundsätze der EuGVVO durch nationale Bestimmungen ausgehöhlt würden.7 Es spricht daher sehr viel dafür, dass der EuGH seine bisherige Rechtsprechung hier fortführt und Bill 55 die Grenzen des Unionsrechts überschreitet.
Des Weiteren geht es um die Auslegung des Art. 52 EuGVVO. Dort ist geregelt, dass ein Urteil aus einem anderen Mitgliedsstaat nicht mehr inhaltlich nachgeprüft werden darf. Das Gericht fragt sich, wie streng diese Anforderung zu verstehen ist. Denn Art. 56a Maltese Gaming Act sieht die Untersagung der Vollstreckung unter zwei Voraussetzungen vor (siehe oben). Deren Vorliegen muss entsprechend geprüft werden. Daher stellt sich die Frage, ob eine Prüfung dieser Voraussetzungen eine verbotene Nachprüfung im Sinne des Art. 52 EuGVVO darstellt.
Schließlich bittet das Handelsgericht den EuGH um eine Auslegung des Begriffs „unverzüglich“ in Art. 48 EuGVVO. Da die Verfahren in Malta oft über sechs Monate, teilweise sogar Jahre dauern bis das Gericht alleine über die Vollstreckung entscheidet, hat das Wiener Handelsgericht erhebliche Zweifel, ob das noch als unverzüglich gelten kann. Zumal es sich bei den Verfahren um ähnliche Sachverhalte handelt, die gem. Art. 52 EuGVVO nicht erneut geprüft werden dürfen.
Im Ergebnis ist daher zu erwarten, dass der EuGH die fraglichen Begriffe so auslegen wird, dass der Regelungsinhalt der Bill 55 gegen diese Grundsätze der EuGVVO verstößt. Die Entscheidung des EuGH wird in diesem Jahr, spätestens Anfang des kommenden Jahres erwartet. Auch wenn das Ergebnis wenig überraschend sein dürfte, bleibt es spannend, wie Malta auf das Urteil reagieren wird.
1) https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2023-001722-ASW_DE.html.
2) Das Vorabentscheidungsverfahren wird beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-683/24 geführt.
3) Die vorgelegten Fragen sind abrufbar unter: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=294153&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=21152637
4) Stadler/Krüger in: Musielak/Voit (Hrsg.), ZPO, 21. Aufl. 2024, Art. 45 EuGVVO, Rn. 13.
5) Vgl. Art. 18 Maltesische Verfassung.
6) EuGH, 23.10.2014- C-302/13, Rn. 56.
7) Stadler/Krüger in: Musielak/Voit (Fn. 4), Art. 45 EuGVVO, Rn. 3.