Beschluss des EuGH, 18. März 2021 – Fluctus Fluentum oder auch: Die gerichtliche Pflicht zur Einzelfallprüfung

Rechtsanwalt Dr. Nik Sarafi

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Das Glücksspielrecht als Materie, die an normativen Wertungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Stimmungsbildern hängt, ist im ständigen Fluss. Kein Gericht entscheidet wirklich denselben Fall wie ein anderes, weil sich die bei der jeweiligen Entscheidung zu berücksichtigen Umstände rasant ändern. Was dies für das gerichtliche Prüfungsprogramm bei glücksspielrechtlichen Fragestellungen bedeutet, hat der EuGH mit Beschluss vom 18. Mai 2021 (Rs. C-920/19 – Fluctus Fluentum) herausgearbeitet.

Der zugrundeliegende Fall

Die der Entscheidung zugrunde liegende Konstellation ist einfach: In einem Restaurant in Graz beschlagnahmte die Finanzpolizei im Jahr 2016 acht Geldspielgeräte, welche ohne die erforderliche behördliche Bewilligung betrieben wurden, und verhängte Geldstrafen gegen Fluctus – die Gesellschaft, die Inhaberin der Glücksspielautomaten war –, Fluentum – die Gesellschaft, die Eigentümerin dieser Automaten war – und den Geschäftsführer von Fluctus und Fluentum in Höhe von insgesamt 480.000 €. Dagegen wehrten sich letzte durch eine Beschwerde vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) (Rn. 10-11).

Das Landesverwaltungsgericht Steiermark hegte Zweifel an der Unionsrechtmäßigkeit des Glücksspielmonopols in Österreich. Denn die Werbepolitik der Glücksspielmonopolisten in Österreich sei nicht maßvoll und auf das beschränkt, was für die Lenkung der Verbraucher hin zu kontrollierten Spielenetzwerken notwendig sei. Vielmehr rege sie zu aktiver Teilnahme am Spiel an, indem sie das Spiel verharmloste, ihm ein positives Image verlieh, seine Anziehungskraft durch In-Aussicht-Stellen bedeutender Gewinne erhöhte, neue Zielgruppen zum Spielen anregte und das inhaltliche Angebot laufend ausdehnte (Rn. 14).

Doch anstatt die als unionsrechtswidrig erachteten Vorschriften unangewendet zu lassen, wandte sich das Landesverwaltungsgericht Steiermark an den EuGH. Der Grund: Drei österreichische Höchstgerichte hatten zuvor entschieden, dass das Glücksspielgesetz mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark müsse sich an diese Rechtsprechung halten, und nur eine Entscheidung des EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahren könne bewirken, dass der Praxis der österreichischen Höchstgerichte, die darin bestehe, das Unionsrecht bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Glücksspielmonopols zu missachten und die Untergerichte daran zu hindern, die Vorgaben der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs anzuwenden, ein Ende gesetzt werde (Rn. 17).

Die Entscheidung des EuGH

In dem Beschluss fasste der EuGH zunächst die Anforderungen zusammen, welche er in vorangegangen Urteilen zur Unionsrechtsmäßigkeit von Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV durch Glücksspielregulierung herausgearbeitet hatte – nämlich, dass ein Monopol nicht unionsrechtsmäßig sein kann,

„wenn festgestellt wird, dass die zuständigen Behörden in Bezug auf andere Glücksspiele als die, die dem staatlichen Monopol unterliegen, eine Politik verfolgen, die eher darauf abzielt, zur Teilnahme an diesen anderen Spielen zu ermuntern, als darauf, die Spielgelegenheiten zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen, was zur Folge hat, dass das der Errichtung dieses Monopols zugrunde liegende Ziel, Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, mit ihm nicht mehr wirksam verfolgt werden kann.“ (Rn. 31)

Ferner entschied der EuGH, dass, wenn ein Gericht von der Unionsrechtswidrigkeit einer Vorschrift überzeugt ist, welche von höheren Gerichten als unionsrechtskonform erachtet wird, die Norm, welche die Bindung eines Gerichts an höhere Gerichte statuiert, nicht anzuwenden ist. Kurz gesagt: Ein Gericht ist zur Wahrung des Unionsrechts verpflichtet, mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu brechen.

„Insoweit ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung zum einen, dass jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beiseitezulassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar ist […]. Zum anderen verpflichtet das Unionsrecht, wenn die Erwägungen eines nationalen Gerichts offensichtlich nicht dem Unionsrecht entsprechen, ein anderes nationales Gericht, das nach dem innerstaatlichen Recht vorbehaltlos an die Auslegung des Unionsrechts durch das erstgenannte Gericht gebunden ist, die innerstaatliche Rechtsvorschrift, die von ihm verlangt, sich an die vom erstgenannten Gericht herangezogene Auslegung des Unionsrechts zu halten, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen. Dies wäre u. a. dann der Fall, wenn ein nationales Gericht aufgrund einer solchen innerstaatlichen Rechtsvorschrift, an die es gebunden ist, daran gehindert wäre, in den bei ihm anhängigen Rechtssachen dem Umstand, dass eine nationale Vorschrift nach einem Urteil des Gerichtshofs als unionsrechtswidrig anzusehen ist, angemessen Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass der Vorrang des Unionsrechts ordnungsgemäß gewährleistet wird, indem es alle hierfür erforderlichen Maßnahmen ergreift.“ (Rn. 57 f.)

Da die Bindung an höchstrichterliche Rechtsprechung somit unter dem Vorbehalt der Unionsrechtsmäßigkeit der gegenständlichen Normen steht, bedeutet dies für glücksspielrechtliche Fragestellungen, dass die Gerichte sich in ihrer Bewertung der Unionsrechtsmäßigkeit nicht auf die Ausführungen anderer Gerichte zurückziehen können, sondern eine eigenständige Prüfung unternehmen müssen:

„Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in Anbetracht der Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu prüfen, ob die Geschäftspolitik des Inhabers des Monopols sowohl hinsichtlich des Umfangs der Werbung als auch hinsichtlich der Schaffung neuer Spiele als Teil einer Politik der kontrollierten Expansion im Glücksspielsektor zur wirksamen Lenkung der Spiellust in rechtmäßige Bahnen angesehen werden kann […]. Insbesondere im Rahmen dieser Prüfung hat das vorlegende Gericht u. a. zu untersuchen, ob im entscheidungserheblichen Zeitraum die kriminellen und betrügerischen Aktivitäten im Zusammenhang mit den Spielen und die Spielsucht in Österreich ein Problem waren und eine Ausweitung der zugelassenen und geregelten Tätigkeiten geeignet war, diesem Problem abzuhelfen.“ (Rn. 40 f.)

An späterer Stelle macht es der EuGH nochmals explizit, dass bei der Prüfung der Unionsrechtsmäßigkeit nicht nur die Umstände bei der Normsetzung, sondern alle Umstände zum Zeitpunkt der Entscheidung – beispielsweise ein Fortschritt in der Suchtforschung bzgl. der Spielsuchtprävention – zu berücksichtigen sind, wenn er ausführt, dass bei

„der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer restriktiven Maßnahme im Bereich des Glücksspiels […] der Ansatz des nationalen Gerichts nicht statisch, sondern dynamisch sein muss, da dieses Gericht die Entwicklung der nach dem Erlass dieser Regelung eingetretenen Umstände berücksichtigen muss.“ (Rn. 59)

Eigentlich nichts neues, aber…

Bahnbrechend ist die Entscheidung des EuGH eigentlich nicht. Bereits dass der EuGH die Entscheidungsform des Beschlusses anstelle des Urteils wählt, zeigt, dass die Entscheidung selbst rechtlich nichts Neues enthält, sondern nur bereits bekannte Prinzipien und Rechtsgrundsätze wiedergibt. Insbesondere die Erörterungen des EuGH zu den Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Glücksspielregulierung fassen lediglich die bisher herausgearbeiteten Grundsätze zusammen.

Obwohl es auch für jeden Rechtswissenschaftler klar sein müsste, dass weder in Deutschland noch in Österreich – anders als im anglo-amerikanischen Recht – kein Case law bzw. kein Fallrecht gilt, jeder Richter und jedes Gericht daher kraft seines Amtes verpflichtet ist, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, wobei natürlich höchstrichterliche Rechtsprechung bei den rechtlichen Aspekten wegweisend sein können und oft auch sind, wird dieser Aspekt in der Praxis oft missachtet. Da heißt es in diversen behördlichen Schreiben, aber auch in richterlichen Entscheidungen, „das Verbot des Internetglücksspiels ist nicht verfassungswidrig, vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26.10.2017 – BVerwG 8 C 18.16)“ und der Fall ist damit abgehakt, anstatt die konkreten Umstände des Sachverhalts zu berücksichtigen und individuell zu subsumieren.

Daher sind die Ausführungen des EuGH zur umfangreichen Prüfpflicht der Gerichte besonders hervorzuheben, weil der EuGH nun endlich in aller Deutlichkeit konstatiert hat, dass eine Bezugnahme auf Präjudizen nicht ausreicht. Bei vielen deutschen Gerichten ist dies bislang leider noch nicht angekommen.

Keine Präjudizenbindung

Eigentlich ergibt sich die Präjudizenunabhängigkeit bereits aus dem Grundgesetz: Nach Art. 97 Abs. 1 GG sind Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Dies ist Segen und Fluch zugleich. Urteile anderer Gerichte entfalten – ausgenommen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Legislative, Exekutive und übrige Judikative bindet – für einen Richter keine Bindungswirkung, der Richter ist also im gesetzlichen Rahmen völlig frei in seiner Rechtsfindung. Praktikabilitätserwägungen mögen einen Richter zwar motivieren, eine bestimmte, von seinem Berufungs- und Revisionsgericht gebilligte Rechtsauffassung zu vertreten, was in der Praxis eine faktische Bindungswirkung zur Folge hat. Eine rechtliche Bindungswirkung besteht aber nicht und ein blindes Mitschwimmen – so hat der EuGH im Beschluss zu Fluctus und Fluentum jetzt entschieden – ist spätestens dort auch nicht mehr rechtmäßig, wo gegen Unionsrecht verstoßen wird. Dies lässt die „Schattenseite“ der Unabhängigkeit des Richters schon erahnen: Ein Richter kann sich nicht einfach auf Ausführungen anderer Gerichte zurückziehen. Damit soll nicht behauptet werden, dass der Präjudizenbezug per se keine Aussage- und Argumentationskraft hat, da eine vorangegangene rechtskräftige Entscheidung zumindest ein Argument für die Vertretbarkeit der vertretenen Auffassung darstellt. Wird ein Präjudizenbezug hergestellt, genügt es aber nicht, die Entscheidung bloß zu zitieren und sich ihr wie auch immer geartet anzuschließen. Vielmehr muss begründet werden, dass der zu beurteilende Sachverhalt dem Sachverhalt, der dem Präjudiz zugrunde lag, in allen rechtserheblichen Punkten gleicht, und der Richter sich die Ausführungen der Präjudizenentscheidung deshalb zu eigen und zu seiner Entscheidungsgrundlage machen kann.

Diese argumentationstheoretischen Grundlagen scheinen an vielen Verwaltungsgerichten, welche über glücksspielrechtliche Fragen zu entscheiden haben, vergessen. Zum Beispiel: Als der VGH München im Jahr 2020 über eine glücksspielrechtliche Untersagungsverfügung zur Veranstaltung von Glücksspielen im Internet zu entscheiden hatte (VGH München, Beschluss vom 16. Oktober 2020 – 23 CS 19.2009), verwies das Gericht zur Begründung der Unionsrechtsmäßigkeit des § 4 Abs. 4 GlüStV 2012 auf die Rechtsprechung des BVerwG aus dem Jahr 2017 (BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 – 8 C 18.16). Das BVerwG verwies seinerseits in seinem Urteil aus dem Jahr 2017 zu der Frage, ob das Verbot des damals geltenden § 4 Abs. 4 GlüStV a.F., welches ein Totalverbot der Veranstaltung von Poker- und Casinospielen im Internet vorsah, mit Unions- und Verfassungsrecht vereinbar sei, auf eine Entscheidung des BVerwG aus dem Jahr 2011 und übernahm dieses stellenweise sogar wortgleich (!) (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 8 C 5/10). Aber nicht mal das Urteil des BVerwG aus dem Jahr 2011 kommt an dieser Stelle ohne Präjudizenbezug aus, sondern nimmt Bezug auf einen Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 2008, der die Gefährlichkeit des Glücksspiels im Internet auf die Verfügbarkeit von zuhause aus und auf das Fehlen eines technikgestützten Authentifizierungs- und Identifizierungssystems zum Ausschluss jugendlicher Spieler zurückführt (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2008 – 1 BvR 928/08). Ausführungen darüber, inwiefern sich die Erkenntnisse zur Entstehung und Bekämpfung von Glücksspielstörung gewandelt haben und die Gefährlichkeit von Online-Glücksspiel deshalb zu überdenken ist, oder inwiefern durch Technik mittlerweile ein ausreichender Spielerschutz sichergestellt werden kann, sucht man in der Entscheidung vergeblich.

Es drängt sich sogar jedem Laien auf, dass es nicht angehen kann, dass eine Entscheidung im Jahr 2020 letztlich auf einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2008 gründet, welche auf mittlerweile evident völlig überholten Vorstellungen zur technischen Umsetzbarkeit von Online-Glücksspiel und zur Spielsuchtentstehung und -bekämpfung basiert. Zu begrüßen ist deshalb, dass der EuGH nun endlich klar und unmissverständlich entschieden hat, dass sich die Gerichte nicht länger auf Präjudizen ausruhen dürfen, sondern selbst die Unionsrechtskonformität der glücksspielrechtlichen Normen unter Bezugnahme auf alle aktuellen Tatsachen, den aktuellen Forschungsstand und die aktuelle normative Bewertung des Glücksspielangebots durch den Gesetzgeber prüfen müssen.

Fazit

Was man aus der Entscheidung des EuGH zu Fluctus und Fluentum mitnehmen sollte, ist, dass glücksspielrechtliche Normen aufgrund der besonderen Eingriffstiefe in die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV immer mit Vorsicht anzuwenden und vorher auf ihre Unionsrechtsmäßigkeit zu prüfen sind. Denn mit Art. 56 AEUV hat der Gesetzgeber deutliche Worte gefunden: Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs sind verboten. Und wer gegen dieses Gebot verstößt – beispielsweise Gerichte oder auch Verwaltungsbehörden, welche unionsrechtswidrige Normen anwenden – handelt selbst unionsrechtswidrig.

Für Gerichte hat der EuGH nun explizit gemacht, dass eine eigenständige Prüfung der Unionsrechtskonformität erforderlich ist. Dasselbe gilt aber auch für die zuständigen Behörden: Auch diese müssen Normen nur mit denkendem Gehorsam anwenden und haben zumindest bei offensichtlichen Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht auch eine Normverwerfungskompetenz (vgl. Demleitner, Die Normverwerfungskompetenz der Verwaltung bei entgegenstehendem Gemeinschaftsrecht, NVwZ 2009, 1525 (1526 mwN)).

Ändern die Verwaltungsgerichte ihre Praxis nicht unverzüglich, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der EuGH sie ob ihrer Missachtung der Prüfpflicht rügt. Die Gerichte sollten deshalb endlich ihre Chance nutzen, selbst Rechtsgeschichte zu schreiben und eine eigenständige Prüfung vorlegen, anstatt Rechtsgeschichte in Gestalt von Präjudizenbezügen lediglich weiter zu tradieren.