Wie bei Corona werden nun auch im Bereich des Glücksspiels an den Parlamenten vorbei Regelungen errichtet. Vor wenigen Tagen erblickten ein Umlaufbeschluss und Gemeinsame Vollzugsleitlinien das Licht der Welt und sollen nunmehr das Maß der Dinge sein. Beide Papiere könnten allzu leicht den Eindruck einer heilen Welt für Anbieter erzeugen, die zeitgemäßen Gehorsam zeigen. Ein trügerisches Bild mit Bumerangeffekt. Gerade für Anbieter, die im Glauben einer „Duldung“ nunmehr Online-Casinospiele betreiben, zugleich aber auch Spielhallen oder Spielbanken, könnten für letztere große Probleme mit der für die Erlaubnis erforderliche Zuverlässigkeit bekommen. Worum geht es genau?
Im März 2020 hatten sich die Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder auf einen Entwurf des Glücksspielneuregulierungsvertrages (kurz: GlüStV 2021) geeinigt. Die wohl bedeutendste Neuerung ist die Erlaubnisfähigkeit von Online-Glücksspielen. Der GlüStV 2021 muss vor seinem Inkrafttreten am 1. Juli 2021 allerdings noch von den Bundesländern ratifiziert werden. Verbindliche Wirkungen des GlüStV 2021 liegen daher in weiter Ferne. Online-Glücksspiele bleiben nach deutscher Rechtslage „illegal“.
Der GlüStV 2021 erscheint – wie schon seine Vorgänger – evident unionsrechtswidrig. Die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit werden ungerechtfertigt beschränkt. Zur Rechtfertigung werden Argumente, wie der Spielerschutz und die Kanalisierung nur vorgeschoben. In Wahrheit dient der Vertrag fiskalischen Interessen der Entscheidungsträger1. Das Notifizierungsverfahren bei der Kommission hat er dennoch unbeschadet durchlaufen; die Kommission hat derzeit aber auch ganz andere Sorgen.
Dieses Regime des GlüStV 2021 soll nach dem Willen der Entscheidungsträger, wer auch immer dazu gehört, den Online-Glücksspielanbietern durch einen „Umlaufbeschluss“ vom 8.9.2020 schon ab Mitte Oktober 2020 aufgezwungen werden. Dazu wird der Umlaufbeschluss von „Gemeinsamen Leitlinien zum Vollzug“ vom 30.9.2020 flankiert. Zwar wurden weder der Umlaufbeschluss noch die gemeinsamen Leitlinien der Kommission notifiziert. Dennoch aber sollen sie wie verbindliche Regelungen gehandhabt werden.
Welche Absicht steckt hinter diesem unorthodoxen Vorgehen? Dem ersten Anschein nach geht es um die Verteilung von Marktanteilen. Auf den zweiten Blick um eine Art der „unausgesprochenen Duldung“. Da die Veranstaltung unerlaubten Glücksspiels nach den Glücksspielgesetzten der Länder eine Ordnungswidrigkeit darstellt und den bisherigen Staatsverträgen verboten ist, könnten Geldbußen oder Untersagungen verhängt werden.
Von jeglichen Vollzugsmaßnahmen und Sanktionen wegen des Fehlens einer deutschen Konzession sollen nunmehr ab dem 15. Oktober diejenigen Glücksspielanbieter ausgenommen werden, die Online-Glücksspiel unter Beachtung der voraussichtlichen zukünftigen Regulierungen des GlüStV 2021 betreiben. So heißt es im Umlaufbeschluss:
„Der Vollzug gegen unerlaubte Glücksspielangebote wird bis zum 30. Juni 2021 daher auf diejenigen Anbieter konzentriert, bei denen abzusehen ist, dass sie sich auch der voraussichtlichen zukünftigen Regulierung entziehen wollen. […] Die Länder gehen gegen diese Anbieter unerlaubten Glücksspiels vor.“
In Ergänzung zu dieser auf Prognosen beruhenden Gesinnungspraxis soll die sofortige Ausrichtung an den Beschränkungen des GlüStV 2021 dazu führen, dass die zukünftige Erlaubnisbehörde keine Zweifel an der zukünftigen „Zuverlässigkeit“ eines Anbieters haben wird. D.h., ein Ausschluss von zukünftigen Erlaubnis- und Konzessionierungsverfahren nach dem GlüStV 2021 wegen angeblich fehlender Zuverlässigkeit ist nicht zu befürchten, wenn der Anbieter bei seinem Angebot schon ab dem 15. Oktober 2020 „technisch bereits umsetzbare“ Teile der voraussichtlich zukünftigen Beschränkungen des GlüStV 2021 einhält (Zitat aus dem Umlaufbeschluss):
„Die Anbieter müssen die Gewähr bieten, die technisch bereits umsetzbaren Vorgaben zum Spielerschutz und zur Spielsuchtbekämpfung einzuhalten. Für den Fortbestand der Sportwettkonzession und die Zuverlässigkeit in zukünftigen Erlaubnis- und Konzessionsverfahren ist in der Regel unschädlich, wenn Konzessionsinhaber neben erlaubten Glücksspielen ausschließlich virtuelle Automatenspiele und Online-Poker im Sinne des Entwurfs des GlüStV 2021 anbieten und dieses Angebot auf das nach dem Entwurf des GlüStV 2021 legale Maß beschränken und hierbei alle zukünftigen Vorgaben zum Spielerschutz und zur Spielsuchtbekämpfung heute schon tatsächlich umsetzen, die heute schon technisch umgesetzt werden können.“
Die Regeln, die ein Anbieter von Online-Glücksspiel umsetzen muss, um keine Repressalien zu befürchten, werden durch die technischen Richtlinien (insbesondere das Limit nach § 6c GlüStV 2021, das Spielersperrsystem nach § 8 GlüStV 2021 und die Regulierungen zur Ausgestaltung des virtuellen Automatenspiels mit Einsatzlimit, Spieldauer und Zwangspausen etc. aus § 22a GlüStV) genauer definiert.
Durch den Umlaufbeschluss nebst technischen Richtlinien versuchen die Länder also, die im GlüStV 2021 angelegte unionsrechtswidrige wettbewerbsbezogene Privilegierung deutscher Glücksspielanbieter lange vor dem ungewissen Inkrafttreten des GlüStV 2021 zu manifestieren.
Es steht zu befürchten, dass hinter dem Ganzen die Absicht steckt, Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten, die in Deutschland in Ausübung ihrer Dienstleistungsfreiheit legal Online-Glücksspiele veranstalten, durch eine „Unzuverlässigkeitsklausel“ vom Markt zu verdrängen. Schon aufgrund der kurzen Frist zwischen der Einigung auf den – Umlaufbeschluss bis zum Stichtag 15. Oktober 2020 wird es einem erheblichen Teil europäischer Online-Anbieter – insbesondere dem Teil, der nicht durch Lobbyisten vorzeitig an Informationen gekommen ist – kaum möglich sein, die Sach- und Rechtslage sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls das Angebot den umfassenden und technisch anspruchsvollen voraussichtlichen zukünftigen Beschränkungen des GlüStV 2021 anzupassen.
Der Umlaufbeschluss sieht dennoch vor, dass jene Anbieter, die den Umlaufbeschluss nicht beachten, ihre „Zuverlässigkeit“ für aktuelle oder spätere Erlaubnis- oder Konzessionsverfahren oder für bestehende Erlaubnisse oder Konzessionen riskieren.
Der Umlaufbeschluss führt damit eine Praxis ein, die es EU-ausländischen Unternehmen sehr erschwert, jetzt und zukünftig am deutschen Markt tätig zu sein. Hingegen können sich die Anbieter, die von der Vollzugspraxis der Bundesländer seit langem wussten, ab Mitte Oktober 2020 gleichsam geduldet am Markt etablieren. Da mutmaßlich einige in Deutschland etablierte Glücksspielanbieter lange vor den europäischen Anbietern von den technischen Vorgaben und Beschränkungen des GlüStV 2021 und dem Umlaufbeschluss mitsamt der gemeinsamen Leitlinien wussten, eventuell sogar daran mitgewirkt haben, hatten sie auch lange Zeit, ihre Online-Angebote entsprechend anzupassen. Eine transparente und Unionsrechts konforme Praxis sieht anders aus.
Allerdings ändert der Umlaufbeschluss nicht die materielle deutsche Rechtslage. Eine Absprache zwischen Bundesländern, den späteren Bewertungsmaßstab für die Zuverlässigkeit eines Anbieters nach Maßgabe des GlüStV 2021 zu definieren, müsste nämlich für seine Verbindlichkeit eine gesetzliche Grundlage haben (vgl. Art. 17 und 52 der Charta). Der Umlaufbeschluss wirft daher gerade für Anbieter, die weitere Geschäfte in Deutschland außerhalb des Online-Glücksspiels tätigen und – wie z.B. der Betrieb einer Spielbank oder ggfs. einer Spielhalle – ebenfalls eine „Zuverlässigkeit“ verlangen, ganz neue Fragen auf. All jene Anbieter müssen befürchten, dass ihnen wegen „Unzuverlässigkeit“ Konzessionen oder Erlaubnisse für den Betrieb von Spielhallen oder Spielbanken von deutschen Behörden entzogen werden. Ob das im Sinne des Erfinders ist? Man darf gespannt bleiben.
1) Die Verfolgung illegitimer fiskalischer Absichten durch die Bundesländer hatte für den GlüStV 2012 auch das Bundesverwaltungsgericht höchstrichterlich bestätigt (BVerwG, 8 C 17.12, 12.12 und 10.12).