Ein Artikel von Rechtsanwalt Dr. Carsten Bringmann
Der BGH hat mit Urteil vom 17.07.20251 eine wegweisende Entscheidung zu den Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen in die unionsrechtlichen Grundfreiheiten getroffen. Die Entscheidung des BGH könnte weitreichende Auswirkungen auf die Rechtfertigung von Eingriffen in die Grundfreiheiten von Glücksspielanbietern haben.
I. Hintergrund der DocMorris-Entscheidung des BGH
Dem Verfahren vor dem BGH lag eine wettbewerbsrechtliche Streitigkeit im Bereich des Arzneimittelrechts zugrunde. Der klagende bayerische Apothekenverband hatte gegen Rabattaktionen einer niederländischen Versandapotheke – der in Deutschland bekannten Marke DocMorris – geklagt. Nach Auffassung des Klägers verstießen Rabatte, welche die beklagte DocMorris ihren deutschen Kunden gewährte, gegen die seinerzeit geltende Arzneimittelpreisbindung des Arzneimittelgesetzes. Ausgehend hiervon hat der BGH festgestellt, dass die Beklagte nicht an die deutsche Arzneimittelpreisbindung gebunden gewesen sei, da diese gegen die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV verstoßen habe. Der deutsche Gesetzgeber, so der BGH, habe den mit der Arzneimittelpreisbindung verfolgten Gesundheitsschutz im Sinne des Art. 36 AEUV nicht hinreichend ermittelt und bewiesen, sodass der mit der Preisbindung verbundene Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit der niederländischen Versandapotheke nicht zu rechtfertigen war.
II. Einordnung der Entscheidung
In seinem Urteil trifft der BGH allgemeingültige Aussagen zu der Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten, die weit über den von ihm entschiedenen Fall hinausreichen. Der BGH betont, dass es den Mitgliedstaaten obliege, in jedem Einzelfall zu beweisen, dass eine von ihnen erlassene Maßnahme, die eine Grundfreiheit einschränkt, geeignet und erforderlich ist.2 Dieser Beweis ist anhand objektiv geeigneter Daten zu führen.3 Konkret verlangt der BGH einen Rückgriff auf statistische Daten oder Daten mit vergleichbarer Aussagekraft.4 Entsprechende Daten hat der beweisbelastete Gesetzgeber seiner Prognoseentscheidung zugrunde zu legen.5 Zugleich stellt der BGH klar, dass die Gerichte sich bei ihrer Überprüfung einer Regulierungsmaßnahme nicht auf eine „bloße Stichhaltigkeitskontrolle der gesetzgeberischen Erwägungen“ beschränken dürfen, sondern „die Stichhaltigkeit der vorgelegten Beweise“ prüfen müssen.6 Diese zur Beweislast und zu Beweismitteln aufgestellten Grundsätze gelten nach dem BGH uneingeschränkt sogar im Bereich gesundheitspolitischer Maßnahmen, mit denen nach dem Vorsorgeprinzip präventiv Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung abgewendet werden sollen.7
III. Übertragbarkeit auf das deutsche Glücksspielrecht
Die Aussagen des BGH in seiner DocMorris-Entscheidung beschränken sich nicht auf den Bereich des Arzneimittelrechts. Sie stellen allgemeingültige Kriterien für die Rechtfertigung von staatlichen Eingriffen in unionsrechtlich garantierte Grundfreiheiten dar. Die vom EuGH zur Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV entwickelten und von dem BGH bestätigten Anforderungen an die Eingriffsrechtfertigung lassen sich folglich auch auf das deutsche Glücksspielrecht und die mit der Glücksspielregulierung verbundenen Eingriffe in die Grundfreiheiten der Glücksspielanbieter übertragen.
Regulierungsentscheidungen im Bereich des Glücksspielwesens, wie etwa die Vorgaben des GlüStV 2021, greifen in die Grundfreiheiten der betroffenen Anbieter ein. Betroffen ist insoweit regelmäßig insbesondere die über Art. 49 und 56 AEUV geschützte Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit der Anbieter.8 Auch diese Eingriffe bedürfen einer Rechtfertigung. Der EuGH prüft insoweit, ob eine Rechtfertigung gemäß Art. 52 Abs. 1 AEUV,9 welcher Beschränkungen zu Gunsten des Gesundheitsschutzes vorsieht, oder aus sonstigen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, etwa dem Verbraucherschutz, in Betracht kommt.10
Ausgehend hiervon rechtfertigen die Länder die geltende Glücksspielregulierung mit den in § 1 Satz 1 GlüStV 2021 genannten Zielvorgaben, die allesamt auf den Verbraucher- und Gesundheitsschutz gerichtet sind. Allein das Sichberufen auf entsprechende Zielvorgaben ist nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH jedoch nicht ausreichend, um Eingriffe in die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit zu rechtfertigen.11 Zwar erkennt der EuGH im Bereich des Glücksspielwesens an, dass die Glücksspielregulierung zu den Bereichen gehört, in denen beträchtliche sittliche, religiöse und kulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen und die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des ihnen am geeignetsten erscheinenden Niveaus des Schutzes der Verbraucher und der Sozialordnung über ein weites Ermessen verfügen.12 Gleichwohl verpflichtet der EuGH die Mitgliedstaaten, sich auch im Rahmen ihrer Ermessensentscheidungen für Beschränkungen von Glücksspielangeboten zu vergewissern, dass ihre Maßnahmen tatsächlich dem Anliegen entsprechen, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen.13 Dabei obliegt es dem Mitgliedstaat, der die restriktive Regelung durchgeführt hat, die Beweise vorzulegen, mit denen sich die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme rechtfertigen lässt.14
Angesichts der grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Grundfreiheiten können an diese Beweiserbringung keine geringeren Anforderungen als im Rahmen der vom BGH geprüften Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34, 36 AEUV gestellt werden. Denn auch wenn der EuGH im Bereich der mitgliedstaatlichen Glücksspielregulierung bislang nicht ausdrücklich gefordert hat, dass die Mitgliedstaaten eine Folgenabschätzung für ihre Regulierungsmaßnahmen vorlegen müssen, verlangt der EuGH im Rahmen der staatlichen Beweisvorlage im Glücksspielwesen jedenfalls eine „Gesamtwürdigung der Umstände, unter denen eine restriktive Regelung erlassen worden ist und durchgeführt wird“.15 Eine solche Gesamtwürdigung kann naturgemäß nur auf aussagekräftigen Tatsachen und Daten, wie den vom BGH exemplarisch angeführten statistischen Daten, fußen. Die bisherige Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf beschränkende Maßnahmen im Glücksspielwesen kann daher bei verständiger Würdigung allein so interpretiert werden, dass einer beschränkenden Glücksspielregulierung – analog zu den Ausführungen des BGH – eine hinreichende Datenlage zugrunde gelegt werden muss.
Für diese Interpretation spricht auch, dass von vornherein nur Tatsachen einem Beweis zugänglich sind. Wenn der EuGH die Mitgliedstaaten dazu anhält, für ihre restriktive Glücksspielregulierung Beweise vorzulegen, müssen die Mitgliedstaaten also letztlich Tatsachen vorlegen, die die Verhältnismäßigkeit der Glücksspielregulierung untermauern. Genau dies fordert der BGH, der dem Wortlaut nach zwar nicht von „Tatsachen“ spricht, sondern von beweistauglichen „Daten“,16 in der Sache damit jedoch dasselbe meint. Dass der BGH darüber hinaus statistische oder jedenfalls gleichermaßen aussagekräftige Daten fordert,17 ist eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit. Denn ein Beweis kann nur mit Tatsachen oder Daten erbracht werden, die zumindest eine gewisse Aussagekraft haben. Die Ausführungen des BGH sind damit auch auf die – von dem EuGH in gefestigter Rechtsprechung anerkannte – Beweislast der Mitgliedstaaten für ihre Glücksspielregulierung anwendbar.
IV. Keine andere Wertung durch Beschluss des OVG Magdeburg vom 23.07.2025
Fast zeitgleich mit dem BGH hat sich das OVG Magdeburg in seinem Beschluss vom 23.07.202518 mit der Frage befasst, ob die Glücksspielaufsicht – im konkreten Verfahren die GGL – den von ihr in einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis verfügten Nebenbestimmungen wissenschaftliche bzw. empirische Belege zugrunde legen müsse. Im Ergebnis haben die Magdeburger Richter eine entsprechende Pflicht verneint. Auf den ersten Blick scheint die Entscheidung des OVG Magdeburg den von dem BGH nur wenige Tage zuvor aufgestellten Grundsätzen zu widersprechen. Bei genauerer Betrachtung ist dies jedoch nicht der Fall: Zunächst lag dem Beschluss des OVG Magdeburg im Eilrechtsschutz eine andere Prüfungstiefe zugrunde als der Entscheidung des BGH in der Revisionsinstanz. Das OVG hat summarisch aufgezeigt, dass den Regelungen des GlüStV 2021 empirische Untersuchungen zugrunde liegen.19 Über den Inhalt und Aussagegehalt der einzelnen Untersuchungen oder deren Stichhaltigkeit in Bezug auf die konkret erlassenen Nebenbestimmungen, hat es jedoch – anders als dies in dem Hauptsacheverfahren erforderlich sein wird – keine Aussage getroffen. Auch inhaltlich ist festzuhalten, dass das OVG Magdeburg für den Nachweis der Rechtfertigung eines staatlichen Eingriffs in eine Grundfreiheit im Grundsatz einen dem BGH und EuGH entsprechenden Maßstab formuliert.20 Das OVG erteilt einer umfassenden Beweispflicht durch empirische Untersuchungen oder wissenschaftliche Erkenntnisse aus Gründen der effektiven Gefahrenabwehr bei verständiger Würdigung nur dann eine Absage, wenn und soweit eine Sachlage vorliegt, die nicht ohne Weiteres eindeutig aufklärbar ist.21 In diesem Fall – aber denklogisch nur dann – setze die Eignung einer Maßnahme keinen zweifelsfreien empirischen Nachweis der Wirksamkeit der Maßnahme voraus.22 Aus diesen Ausführungen des OVG Magdeburg lässt sich ferner nicht ableiten, dass der handelnde Mitgliedstaat vollständig davon befreit wäre, Beweis für die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu erbringen, sondern lediglich, dass auch Ergebnisse anderer Untersuchungsmethoden der Gefahrenprognose zugrunde gelegt werden können als empirischer oder wissenschaftlicher Untersuchungen. Dies deckt sich mit den Ausführungen des BGH im Zusammenhang des Vorsorgeprinzips. Demnach muss Risikomanagement zwar grundsätzlich auch in einem Umfeld wissenschaftlicher Unsicherheit möglich sein, könne aber einen Mitgliedstaat nicht davon befreien, in jedem Einzelfall den Beweis der Erforderlichkeit zu führen.23
V. Bedeutung der Entscheidung für die Glücksspielregulierung
Die von dem BGH in Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH formulierten Anforderungen an die Beweiserbringung im Rahmen von Eingriffen in Grundfreiheiten sind auch für die Glücksspielregulierung von Bedeutung. Relevanz entfaltet die Rechtsprechung zunächst insbesondere für gesetzgeberische Maßnahmen, die mehr oder weniger „historisch gewachsen“ sind und für die bislang keinerlei aussagekräftige Datenlage existiert. Dies betrifft beispielsweise die Trennungsgebote24 und Mindestabstandsregelungen25 im terrestrischen Spielbetrieb. Daneben müssen sich jedoch auch Maßnahmen der Glücksspielaufsicht an den von dem BGH aufgestellten Maßstäben messen lassen. Da zahlreiche Anbieter verwaltungsgerichtliche Klagen gegen die Beschränkungen ihrer Werbemöglichkeiten inklusive der Gewährung von Boni und Rabatten eingereicht haben, ist zu erwarten, dass sich die damit befassten Verwaltungsgerichte künftig zu der Rechtsprechung des BGH und den dort aufgestellten Anforderungen an die Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen positionieren werden.
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Aktenzeichen: I ZR 74/24. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 41, 51 nach juris, unter Rückgriff auf EuGH, Urt. v. 19.10.2016, C-148/15, zitiert nach juris. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 51 nach juris. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 42 nach juris. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 40 f., 52 nach juris. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 43 nach juris. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 49 nach juris. ↩︎
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Statt Vieler: EuGH, Urt. v. 22.01.2015, C-463/13 („Stanley Bet“), Tz. 46 nach juris. ↩︎
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Über den Verweis in Art. 62 AEUV gilt Art. 52 Abs. 1 AEUV auch im Bereich der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV. ↩︎
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EuGH, Urt. v. 22.01.2015, C-463/13 („Stanley Bet“), Tz. 47 f. nach juris. ↩︎
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Statt Vieler: EuGH, Urt. v. 23.12.2025, C-333/14 (“Scotch Whiskey Association”), Tz. 59 nach juris. ↩︎
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EuGH, Urt. v. 08.09.2016, C-225/15, Tz. 39 nach juris. ↩︎
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EuGH, Urt. v. 08.09.2010, C-46/08, Tz. 65 und 85 nach juris. ↩︎
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EuGH, Urt. v. 28.02.2018, C-3/17, Tz. 59 f. nach juris. ↩︎
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EuGH, Urt. v. 30.04.2014, C-390/12, Tz. 52 nach juris; Urt. v. 28.02.2018, C-3/17, Tz. 64 nach juris. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 42 nach juris. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 42 nach juris. ↩︎
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Aktenzeichen: 3 M 56/25. ↩︎
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OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.07.2025, 3 M 56/25, BeckRS 2025, 19946, Tz. 32, unter Bezugnahme und Verweis auf OVG Magdeburg, Beschl. v. 19.12.2023, 3 M 87/23, Tz. 16 nach juris. ↩︎
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OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.07.2025, 3 M 56/25, BeckRS 2025, 19946, Tz. 34. ↩︎
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OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.07.2025, 3 M 56/25, BeckRS 2025, 19946, Tz. 35. ↩︎
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OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.07.2025, 3 M 56/25, BeckRS 2025, 19946, Tz. 35. ↩︎
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BGH, Urt. v. 17.07.2025, I ZR 74/24, Tz. 50 f. nach juris. ↩︎
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Vgl. etwa § 21 Abs. 2 GlüStV 2021, wonach in einem Gebäude oder Gebäudekomplex, in dem sich eine Spielhalle oder eine Spielbank befindet, keine Sportwetten vermittelt werden dürfen. ↩︎
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Gemeint sind Mindestabstandsregelungen nach den Spielhallenregulierungen der Länder, etwa gemäß § 16 Abs. 3 AG GlüStV NRW. ↩︎