Das Unionsrecht steht einer nationalen Regelung über Glücksspiele entgegen, die einen Mindestabstand zwischen Wettannahmestellen vorschreibt, wenn damit die Geschäftspositionen der bestehenden Betreiber geschützt werden sollen

Pressemitteilung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-72/10, Marcello Costa, und C-77/10, Ugo Cifone

Der Gerichtshof prüft die Maßnahmen Italiens zur Behebung des von ihm 2007 für rechtswidrig erklärten Ausschlusses bestimmter Glücksspielanbieter

Die geltende italienische Regelung sieht vor, dass die Tätigkeiten des Sammelns und der Verwaltung von Wetten nur von Personen ausgeübt werden, die aufgrund einer Ausschreibung eine Konzession erlangt und ferner eine ordnungspolizeiliche Genehmigung erhalten haben. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften ist strafbar.

1999 hatten die italienischen Behörden nach Ausschreibungen eine große Zahl von Konzessionen für Sport- und Pferderennwetten vergeben. Von den Ausschreibungen waren u. a. Gesellschaften, deren Anteile auf reglementierten Märkten gehandelt werden, ausgeschlossen. 2007 stellte der Gerichtshof die Rechtswidrigkeit dieses Ausschlusses fest1.

2006 begann Italien, den Glücksspielsektor zu reformieren, um ihn an die Anforderungen des Unionsrechts anzupassen. Insbesondere schrieb Italien eine große Zahl von neuen Konzessionen aus und legte u. a. fest, dass die neuen Wettannahmestellen Mindestabstände zu den Annahmestellen einhalten müssen, für die bereits im Zuge der Ausschreibung von 1999 eine Konzession vergeben worden war.

Herr Costa und Herr Cifone, die Datenübertragungszentren (DÜZ) betreiben und vertraglich an die englische Gesellschaft Stanley International Betting Ltd gebunden sind, wurden wegen unerlaubter Wetttätigkeit belangt, weil sie, ohne die Voraussetzungen nach der italienischen Regelung zu erfüllen, Wetten angenommen hatten. Stanley ist in Italien ausschließlich durch mehr als 200 Agenturen tätig, die als DÜZ betrieben werden. Das Unternehmen war von der Ausschreibung im Jahr 1999 rechtswidrig ausgeschlossen worden und hatte von einer Teilnahme an der Ausschreibung von 2006 mangels einer zufriedenstellenden Antwort der italienischen Behörden auf seine Ersuchen um Klarstellung zu der neuen Regelung Abstand genommen.

Die Corte suprema di cassazione (italienischer Kassationshof), bei der diese Verfahren anhängig sind, hat Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit der durch das Unionsrecht gewährleisteten Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Diese Regelung scheint nämlich nach Auffassung des italienischen Gerichts diskriminierende Züge aufzuweisen, weshalb es dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen vorgelegt hat.

Als Erstes prüft der Gerichtshof die nationale Bestimmung, nach der die neuen Konzessionäre mit ihren Einrichtungen einen Mindestabstand zu den bereits vorhandenen Konzessionären einzuhalten haben. Diese Maßnahme bewirkt nach Auffassung des Gerichtshofs, dass die von den bereits etablierten Betreibern erworbenen Geschäftspositionen zum Nachteil der neuen Konzessionäre geschützt sind, die sich an Orten niederlassen müssen, die geschäftlich weniger interessant sind als die der etablierten Betreiber. Eine solche Maßnahme bedeutet somit eine Diskriminierung der von der Ausschreibung von 1999 ausgeschlossenen Wirtschaftsteilnehmer.

Eine solche Ungleichbehandlung kann nach dem Unionsrecht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Die italienische Regierung führt zwei Gründe an. Zum einen solle verhindert werden, dass Verbraucher, die in der Nähe von Wettannahmestellen wohnen, einem Überangebot ausgesetzt seien. Der Gerichtshof weist dieses Argument zurück, weil der italienische Glücksspielsektor lange Zeit durch eine expansive Politik gekennzeichnet war, die mit dem Ziel einer Erhöhung der Staatseinnahmen betrieben wurde. Zum anderen trägt Italien vor, die Regelung solle der Gefahr entgegentreten, dass sich die in schlechter versorgten Orten lebenden Verbraucher auf illegale Spiele einließen. Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die zur Verwirklichung des geltend gemachten Ziels eingesetzten Mittel kohärent sein und systematisch gelten müssen. Im vorliegenden Fall gilt die Mindestabstandsregelung nicht für die bereits etablierten, sondern für die neuen Konzessionäre und würde daher nur für diese zu Nachteilen führen.

Jedenfalls ließe sich eine nationale Regelung, die einen Mindestabstand zwischen Annahmestellen vorschreibt, nur dann rechtfertigen, wenn ihr wirkliches Ziel nicht im Schutz der Geschäftspositionen der bestehenden Betreiber bestünde, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist. Das italienische Gericht hat gegebenenfalls auch zu prüfen, ob die Verpflichtung zur Einhaltung von Mindestabständen, die der Einrichtung zusätzlicher Annahmestellen in vom Publikum stark frequentierten Zonen entgegensteht, zur Erreichung des angegebenen Ziels geeignet ist und die neuen Betreiber dazu veranlasst, sich an weniger frequentierten Orten niederzulassen, womit das nationale Hoheitsgebiet abgedeckt wird.

Als Zweites prüft der Gerichtshof die italienische Regelung, die den Entzug der Konzession (und den Verfall der für ihre Erlangung gestellten finanziellen Sicherheit) vorsieht, wenn der Konzessionsinhaber oder der Geschäftsführer unerlaubte Spiele anbietet und damit einen Straftatbestand erfüllt, „der geeignet ist, die vom Vertrauen getragenen Beziehungen mit der Staatsmonopolverwaltung zu zerrütten“.

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Grundsätze der Dienstleistungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs Sanktionen gegen Personen (wie Herrn Costa und Herrn Cifone), die an einen Wirtschaftsteilnehmer (wie Stanley) gebunden sind, entgegenstehen, wenn dieser von einer Ausschreibung unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden ist. Diese Feststellung gilt auch für die Neuausschreibung zur Behebung dieses rechtswidrigen Ausschlusses des Wirtschaftsteilnehmers, wenn dieses Ziel durch die Neuausschreibung nicht erreicht werden konnte, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist.

Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass die Bedingungen und Modalitäten eines Vergabeverfahrens und insbesondere Bestimmungen, die den Entzug von Konzessionen vorsehen, klar, genau und eindeutig formuliert sein müssen, was vorliegend nicht der Fall ist. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, dies zu prüfen.

1) Urteil des Gerichtshofs vom 6. März 2007, Placanica u. a. (C-338/04, C-359/04 und C-360/04), siehe auch Pressemitteilung Nr. 20/2007.