Pathologisches Spiel – Wissenschaft sucht nach Erklärungen – Die Sucht, die ohne „Stoff“ funktioniert

Von Katharina Schmidt und Werner Grotte
Nicht für jeden bleibt Spielen eine angenehme Freizeitbeschäftigung: Offiziell wurde „pathologisches Glücksspiel“ 1991 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als psychische Störung anerkannt. Schätzungen zufolge leiden etwa 80.000 bis 240.000 Österreicher an krankhafter Spielsucht. Dennoch ist diese Suchtform im Gesundheitsbereich kaum als solche anerkannt. Einige wenige Anlaufstellen kümmern sich um Kranke, engagierte Wissenschaftler um die Ursachen – beide zunehmend in Kooperation mit der Glücksspielindustrie selbst.

„Der Spieler verliert den Bezug zum Geld, es wird zur Spielmarke“, beschreibt Wilhelm Gizicki die Schattenseite des Glücksspiels. Der 88-Jährige war selbst 20 Jahre lang spielsüchtig – er verlor sein gesamtes Vermögen, seine lukrative Autozubehör-Firma und beinahe auch sein Leben.

Der Zusammenbruch kam 1980: „Ich wollte mich an meinem Schreibtisch erschießen“, erzählt Gizicki der „Wiener Zeitung“ . Im neurologischen Krankenhaus am Wiener Rosenhügel wurde er danach monatelang psychiatrisch und medikamentös behandelt. So wurde Gizicki nicht nur spielfrei, sondern auch „für Leidensgenossen aktiv, denn damals hat sich noch kein Hund um uns Spieler gekümmert“.

Mit Finanzhilfe der Österreichischen Spielbanken (heute Casinos Austria) gründete Gizicki 1982 den gemeinnützigen Verein „Anonyme Spieler“ (AS), der bis heute Spielsüchtigen und Angehörigen Hilfe anbietet. Neben Gizicki, der auch mit 88 sein „Kind nicht im Stich lassen will“, gehören zehn Psychologen, Psychotherapeuten und Sozialarbeitern zum AS-Team.

„Spielen ist als Lösung gedacht, führt dann aber wieder zu neuen Problemen“, beschreibt die leitende klinische Psychologin der AS, Izabela Horodecki, den Teufelskreis der Sucht. Am Beginn einer Spielerkarriere steht in 75 Prozent der Fälle ein – mehr oder minder großer – Gewinn, aufgrund dessen der Spieler an den weiteren Ausbau seines „Anfängerglücks“ glaubt. Der Übergang zur Sucht verläuft fließend in einem mehrjährigen Prozess: Gewinnphantasien beherrschen das Leben, soziale Kontakte werden vernachlässigt, das Bankkonto zunehmend überzogen. Wie aus einem Bericht der AS aus 2003 hervorgeht, beginnen 68 Prozent der vom Verein betreuten Süchtigen unter 25 Jahren zu spielen. Der Therapiebeginn erfolge meist erst zwischen 30 und 40, so Horodecki. Und: „Spielen ist männlich“ – Frauen beginnen, wenn überhaupt, erst in mittlerem Alter zu spielen: Nur 15 Prozent der behandelten Spieler sind weiblich.

Entzug wie bei Heroin

Wie bei substanzgebundenen Drogen gibt es auch beim pathologischen Glücksspiel Entzugserscheinungen wie Schlaflosigkeit oder Schweißausbrüche und latente Rückfallgefahr: „Am Anfang meiner spielfreien Zeit bekam ich schon Schweißausbrüche, wenn im Fernsehen Roulette gezeigt wurde – Spieler bleibt immer Spieler“, so Gizicki.

Auch die Spieleindustrie kann sich diesen Tatsachen nicht verschließen und kooperiert längst mit international anerkannten Suchtforschungseinrichtungen wie der „Interdisziplinären Suchtforschungsgruppe Berlin“ (ISFB).

Beim Menschen gehe es generell darum, die Biochemie der Gefühle im Einklang zu halten, erklärt ISFB-Leiterin und Suchttherapeutin Sabine Grüsser-Sinopoli die Kernthese ihres Forschungsansatzes. Jede Form der Sucht resultiert aus einer – positiven oder negativen – Stresssituation, die inneres Ungleichgewicht hervorruft. Die Reaktion des Einzelnen auf diese „Verwirrung“ liegt in erlernten Verhaltensmustern: Welcher „Stoff“ hilft?

Erwiesenes Suchtverhalten

So wurde in Untersuchungen etwa mit Hilfe von Herzfrequenz-Messungen nachgewiesen, dass bestimmte Reize bei gesunden Menschen keinerlei Wirkung zeigen, während Süchtige, die dieselben Reize mit dem Suchtmittel in Verbindung bringen, stark darauf reagieren. Beispielsweise Kaffee-Geruch kann so bei ehemaligen Rauchern auch nach jahrelanger Abstinenz noch Verlangen nach einer Zigarette auslösen. Ähnlich verhält es sich auch bei substanzungebundenen Suchtformen wie Internet-, Sex- oder Glücksspielsucht.

So genannte „verhaltensgebundene Süchte“ erfüllen zwar formale Kriterien einer Abhängigkeit, etwa Kontrollverlust und Vernachlässigung sozialer Kontakte, sind aber noch großteils unerforscht: Lediglich das pathologische Glücksspiel ist in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen gesondert angeführt, die restlichen verhaltensgebundenen Süchte fallen unter den Sammelbegriff „Störung der Impulskontrolle“. Durch diese mangelhafte Definition fehlt es laut Grüsser-Sinopoli auch an angepassten Therapieformen, die große Anzahl an Selbsthilfegruppen zeigt aber den gleichwohl stark vorhandenen Leidensdruck der Betroffenen.

Die Forschungsgruppe, in der Soziologen, Psychologen und Mediziner der drei großen Berliner Universitäten zusammen arbeiten, entwickelt anhand sogenannter psychometrischer (Verhaltensanalyse, Familienanamnese etc.) und physiologischer (Schreckreflex, Herzrate etc.) Erhebungen eigene Therapien für solche Suchtformen.

Forschung und Praxis

Da Verhaltenssüchte gesellschaftlich oft erwünscht sind und daher von der Umwelt meist spät bemerkt werden, setzt man auf Aufklärung und Prävention: Der österreichische Automaten-Riese „Admiral“ etwa lässt seine Mitarbeiter im Rahmen eines Sozialprogrammes „basis-sensibilisieren“, in den größeren Wettbüros stehen Kernteams in ständigem Kontakt mit den Suchtforschern. In den Casinos liegen Informationsbroschüren auf, in denen unter anderem Telefonnummern regionaler Selbsthilfegruppen verzeichnet sind. Grüsser-Sinopoli betont aber die Unabhängigkeit der ISFB: „Wir schauen den Casinos letztendlich genau auf die Finger“.

http://www.as-wien.com

http://www.isfb.org