Liebe Leser,
viele Entscheidungen zum grenzüberschreitenden Angebot von Sportwetten zeigen eine erschreckend Unkenntnis deutscher Richter vom Europarecht (obwohl dieses unmittelbar geltendes Recht ist). Selbst der Bundesgerichtshof hat in seiner „Schöner-Wetten-Entscheidung“ (über die wir bereits berichteten) zwar die landesrechtliche Zulassungsregelung für unzulässig gehalten, die darauf aufbauende verwaltungsrechtsakzessorische Strafrechtsnorm des § 284 StGB (unerlaubte Veranstaltung von Glücksspielen) „an sich“ allerdings als noch europarechtskonform beurteilt.
Eine derartige isolierte Betrachtung ist natürlich aus europarechtlicher Sicht (und nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs) unzulässig. Bereits aus dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung kann man nicht die verwaltungsrechtliche Regelung für unzulässig halten, aber dennoch eine Strafbarkeit nach § 284 StGB oder gar einen darauf aufbauenden wettbewerbsrechtlichen Anspruch bejahen.
Das Amtsgericht Heidenheim hat diesen Gesichtspunkt in einer ganz aktuellen Entscheidung zutreffend herausgearbeitet, die wir im Folgenden besprechen.
Einen noch größeren Durchbruch hin zu einer Liberalisierung stellt eine neue Entscheidung des Verwaltungsgerichts Kassel dar, das nunmehr noch einen Schritt weiter wie der Hessische Verwaltungsgerichtshof geht (wir berichteten) und die landesrechtliche Zulassungsregelung für verfassungswidrig erklärt. Nach unserer Auffassung wird das Bundesverfassungsgericht diese Frage bald klären müssen, da andere Gerichte über diese durchgreifenden Bedenken nicht einfach hinweg gehen dürfen.
Es bleibt also spannend.
Die Redaktion
Verwaltungsgericht Kassel: Landesrechtliche Glücksspielregelung verfassungswidrig
– kommentiert von Rechtsanwalt Martin Arendts, M.B.L.-HSG
Das Verwaltungsgericht Kassel hat die landesrechtliche Glücksspielregelung in Hessen kürzlich für verfassungswidrig erklärt (Beschluss vom 24. Juni 2004, Az. 2 G 701/04). Auch für den Fall, dass weder die Dienstleistungs- noch die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 f. bzw. 49 f. EG) berührt ist (und der Sachverhalt somit alleine nach nationalem Recht zu beurteilen ist), ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichts eine landesrechtliche Regelung, nach der alleine das Land befugt ist, Sportwetten zu veranstalten, mit höherrangigem Recht nicht vereinbar. Die Regelung ist vielmehr wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) verfassungswidrig.
Das Gemeinschaftsrecht war für den zu entscheidenden Sachverhalt nicht anwendbar, da der Buchmacher seinen Sitz auf der Isle of Man (und damit außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums) hatte. Das Gericht der Hauptsache zu der Entscheidung des Hessischen VGH (über die wir bereits früher berichtet hatten) führt in dem Beschluss hierzu aus:
„Der Umstand, dass sich deshalb der Antragsgegner als Vermittler von Sportwetten nicht auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit des Gemeinschaftsrechts berufen kann, weil er Sportwetten eines Veranstalters vermittelt, der seinen Sitz nicht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts betreffend die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit hat, ändert aber gleichwohl nichts an der dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs zugrunde liegenden Annahme, dass die Regelungen des § 1 Abs. 1 SpW/LottoG, wonach allein das Land Hessen befugt ist, innerhalb seines Staatsgebietes Sportwetten zu veranstalten, mit höherrangigem Recht nicht vereinbar ist und deshalb – im Zusammenhang mit § 284 StGB und § 11 HSOG – keine Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid darstellen kann. Denn nach Auffassung des Gerichts führen dieselben Gründe, die den Hessischen Verwaltungsgerichtshof dazu geführt haben, von einem Verstoß von § 1 Abs. 1 SpW/LottoG gegen das Gemeinschaftsrecht auszugehen, auch zu der Annahme, dass von einem Verstoß von § 1 Abs. 1 SpW/LottoG gegen die Gewährleistung der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG auszugehen ist. (…)
Nicht anders ist die Lage im Hinblick auf die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG. Auch hier kann die Einschränkung der Berufsfreiheit jedenfalls mit dem Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt werden. Allerdings entfällt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine solche Rechtfertigung dann, wenn die in § 284 StGB vorausgesetzte Unerwünschtheit des Glücksspiels in unauflösbarem Widerspruch zum staatlichen Veranstalterverhalten gerät, indem das Spielangebot mit aggressiver Werbung extrem ausgeweitet wird (BVerwG, Urteil vom 28.03.2001 ‑ 6 C 2.01 ‑, BVerwGE 114, 92).
Geht man, wie der Hessische Verwaltungsgerichtshof dies in dem Beschluss vom 09.02.2004 tut, im Rahmen der summarischen Prüfung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes davon aus, dass die gegenwärtige Praxis der Veranstaltung von und die Werbung für Oddset-Wetten in Hessen einen Umfang erreicht hat, der die Rechtfertigung der Einschränkung im Gemeinschaftsvertrag verbürgter Rechte durch die Errichtung eines staatlichen Monopols und seines strafrechtlichen Schutzes entfallen lässt, so trifft dies aus denselben Gründen auch auf die Rechtfertigung der Einschränkung der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG zu.“
Das Verwaltungsgericht legte die Frage der Verfassungswidrigkeit nur deshalb nicht dem Bundesverfassungsgericht vor (gemäß Art. 100 Abs. 1 GG), da es sich um ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren handelte. Die mit Hauptsache-Verfahren befasste Gerichte werden dagegen die – nach unserer Ansicht durchgreifenden – verfassungsrechtlichen Bedenken prüfen und dem Bundesverfassungsgericht vorlegen müssen.
Die Tage des Glücksspielmonopols der Bundesländer sind damit nicht nur aus europarechtlichen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gezählt.