Heftige Kritik an der Vergabe der Studien zu Glücksspielsuchtprävalenz

(Freie Demokraten Bremen) In seiner Antwort auf die Kleine Anfrage „Evaluierung Glücksspielstaatsvertrag“ (Drucksache 21/290 zu Drucksache 21/226) ist der Senat umfassend auf den Stand der „anbieterunabhängigen Suchtforschung“ und deren handelnde Akteure eingegangen. Zwischenzeitlich wurde mit dem „Glücksspiel-Survey 2023“ am 06.03.2024 eine aktuelle Erhebung zur Prävalenz von Glücksspiel und Glücksspielsucht vorgestellt. Wie die Vorgängerstudie, der „Glücksspiel-Survey 2021“, wurde dieser gemeinschaftlich von der Arbeitseinheit Glücksspielforschung der Universität Bremen und vom Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung (ISD) Hamburg durchgeführt. An der Methodik und insbesondere an der scheinbaren Intransparenz der Daten wurden umfassend Kritik geäußert, wie u.a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die am 06.03.2024 unter der Überschrift „Streit über Studie: Wie viele Menschen in Deutschland sind glücksspielsüchtig?“ berichtete.

Auf Seiten der Universität Bremen wird die Arbeitseinheit Glücksspielforschung von Dr. Tobias Hayer geleitet. Herr Dr. Hayer ist zudem Autor des „Glücksspielatlas 2023“, welcher ebenfalls von der Arbeitseinheit Glücksspielforschung der Universität Bremen und dem Hamburger ISD erarbeitet wurde.

Laut eines Artikels der WELT (Titel: Zahlen zur Glücksspielsucht „Es ist für mich offensichtlich, dass hier nicht sauber gearbeitet wurde“) vom 21.02.2024 stützen sich die verwendeten Zahlen zur Spielsuchtprävalenz ausschließlich auf den „Glücksspiel-Survey 2021“ und damit dessen geänderte Methodik, welche zu einer Vervielfachung der Suchtzahlen gegenüber den vorherigen Erhebungen der BZgA geführt hat.

Der „Glücksspielatlas 2023“ beziffert das Ausmaß glücksspielbezogener Probleme in Deutschland auf 1,3 Millionen Personen mit einer glücksspielbezogenen Störung sowie auf weitere 3,25 Millionen Personen „mit einem riskanten Glücksspielverhalten“. Ebenfalls im November 2023 hat die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS) ihren Jahresbericht vorgestellt. Für den Zeitraum 2017-2022 stellt sie im ambulanten Bereich einen Rückgang der Zahl der Klienten mit Glücksspielproblematik um 41% fest; der Rückgang im stationären Bereich ist laut DSHS noch stärker.

In Drucksache 21/290 bezeichnete der Senat Herrn Dr. Hayer wiederholt als „anbieterunabhängig“ und Teil der „anbieterunabhängigen Suchtforschung“. Der Senat unterstreicht weiterhin, dass bereits Herrn Dr. Hayers Mitgliedschaft im Fachbeirat eine „finanzielle Unterstützung“ durch Lotto oder andere Glücksspielanbieter verbiete. Dies steht im Widerspruch zum früheren Empfang von Fördermitteln des Rechtsausschusses des Deutschen Lotto- und Totoblocks, welcher sich mit Herrn Dr. Hayers Mitgliedschaft im Fachbeirat zeitlich überschnitt und auf den der Seite des Fachbeirats Glücksspiel auch korrekterweise als möglicher Interessenkonflikt deklariert wurde.

Auch die Autoren der Glücksspiel-Surveys 2021 und 2023, Prof. Dr. Gerhard Meyer (Mitglied von Herrn Dr. Hayers Arbeitseinheit an der Universität Bremen) und Dr. Jens Kalke (ISD Hamburg) werden vom Senat als „unabhängige Wissenschaftler“ bezeichnet. Zu dieser Bewertung gelangt der Senat ungeachtet der finanziellen Förderung der Surveys durch den Deutschen Lotto- und Totoblock mit dem auch die Ergebnisse gemeinsam präsentiert wurden. Lotto Niedersachsens Geschäftsführer Axel Holthaus ließ sich bei der gemeinsamen Pressekonferenz wie folgt zitieren: „Die Studienergebnisse bestätigen erneut, dass von Lotterien wie LOTTO 6aus49 oder Eurojackpot ein deutlich geringeres Gefährdungspotenzial ausgeht als von den weiteren erhobenen Glücksspielformen.“

In der Sektion „Empfehlungen für die Praxis“ kommt die gemeinsame Pressemitteilung von ISD und Uni Bremen zudem zu folgendem Schluss: „Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen zudem, dass es auch unter den Teilnehmer*innen von Glücksspielen mit geringem Gefährdungspotential einen nennenswerten Anteil von Problemspielenden gibt – auch wenn davon auszugehen ist, dass dafür mehrheitlich andere Glücksspielformen ursächlich waren.“

Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat:

  1. Sind nach Auffassung des Senates Wissenschaftler, deren Forschung vom staatlichen Marktteilnehmer Lotto gefördert wird, „anbieterunabhängig“ bzw. „branchenunabhängig“? Bitte begründen.
  2. Ist dem Senat bewusst, dass Dr. Tobias Hayer ein „Glücksspielmonopol“ als wünschenswert betrachtet? Falls ja, teilt der Senat diese Zielvorstellung?
  3. Wie bewertet der Senat die Kritik des ehemaligen Fachbeirats-Mitglieds Prof. Dr. Rüdiger Wulf (Universität Tübingen), dass man mit den für Herrn Dr. Hayers Studie „Spielerschutz im Internet: Evaluation der Maßnahmen des Glücksspielstaatsvertrages 2021“ aufgewandten 756.302,52 Euro auch „mehrere Studien“ hätte durchführen können? Falls der Senat diese Kritik teilt, hat er sie im Rahmen der Erarbeitung der Ausschreibung der Studie angebracht?
  4. Sollten vor diesem Hintergrund nach Auffassung des Senates noch Studien anderer Autorinnen und Autoren (neben Herrn Dr. Hayers Studie) Eingang in die Evaluierung der Spielerschutzmaßnahmen des Glücksspielstaatsvertrags 2021 finden, um die dort vereinbarte kontrollierte Marktöffnung ergebnisoffen zu betrachten?
  5. Wie bewertet der Senat, dass die Rohdaten und genutzten Fragebögen des „Glücksspiel-Survey 2021“ entgegen der „Standards guter wissenschaftlicher Praxis“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Praxis der früher mit der Erhebung betrauten Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) nicht veröffentlicht wurden?
  6. Welche Fragebögen wurden nach Kenntnis des Senats für den „Glücksspiel-Survey 2021“ genutzt?
  7. Hat der Senat und insbesondere der Senator für Inneres und Sport die entsprechenden Daten bei den Autoren des „Glücksspiel-Survey 2021“ angefragt? Falls nein, warum nicht?
  8. Setzt sich der Senat gegenüber den Autoren des „Glücksspiel-Survey 2021“ dafür ein, dass die Rohdaten und genutzten Fragebögen zur Ermöglichung einer evidenzgestützten Debatte über die Glücksspielregulierung zusammen mit dem Ergebnisbericht veröffentlicht werden, wie dies bei den Vorgängerstudien der BZgA üblich war? Falls nein, warum nicht?
  9. Wie erklärt sich der Senat, dass es laut des jüngsten Jahresberichts der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) im Zeitraum 2017-2022 im ambulanten Bereich einen Rückgang der Klienten mit Glücksspielproblematik um 41% gab, und einen noch stärkeren Rückgang im stationären Bereich?
  10. Wie bewertet der Senat, dass laut dieses Berichtes im Jahr 2022 bundesweit lediglich 11.686 Klienten mit Glücksspielproblematik ambulante und weitere knapp 400 Personen stationäre Suchthilfemaßnahmen in Anspruch genommen haben, d.h. lediglich ca. 0,9% der laut Glücksspielatlas 1,3 Millionen pathologisch Spielenden in Behandlung sind?
  11. Befürchtet der Senat angesichts des Vergleichs von Glücksspiel-Survey 2017 und DSHS-Jahresbericht 2017 mit den heutigen Erhebungen, dass die Suchthilfe eine abnehmende Zahl pathologisch Spielender erreicht? Falls ja, welche Konsequenzen zieht der Senat hieraus?
  12. Sollten nach Auffassung des Senates und angesichts der Erkenntnisse des Glücksspiel-Surveys 2023, dass 34% der an einer Glücksspielstörung leidenden Deutschen „ausschließlich Lotterien mit geringem Gefährdungspotenzial“ in einer pathologischen, selbstschädigenden Weise spielen, auch diese „Lotterien mit geringem Gefährdungspotenzial“ an die spielform- und anbieterübergreifende Sperrdatei angeschlossen werden? Bitte begründen.
  13. Ist nach Auffassung des Senats eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse des „Glücksspiel-Survey 2023“ mit den Ergebnissen des „Glücksspiel-Survey 2021“ gegeben, solange Daten und Fragebögen des „Glücksspiel-Survey 2021“ weiter unter Verschluss gehalten werden? Falls ja, wie begründet der Senat dies?
  14. Angesichts der finanziellen Förderung des „Glücksspiel-Survey“ durch den Deutschen Lotto- und Totoblock: Sollte nach Auffassung des Senats die Vergabe der zentralen Studie zu Glücksspiel- und Glücksspielsuchtprävalenz künftig durch ein Gremium erfolgen, welches nicht selbst Teilnehmer am deutschen Glücksspielmarkt ist (bspw. durch die Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder)? Falls nein, warum nicht? Falls ja, sind hier entsprechende Initiativen geplant und gibt es bereits einen zeitlichen Rahmen zur Umsetzung?