Rien ne va plus am Nullmeridian

Es gibt Zeitgenossen, die würden ihn am liebsten abreissen, den Dome, den schon Prinz Charles als monströsen Wackelpudding verhöhnte. Andere schwören auf das Kuppelzelt, das aussieht, als wäre eine fliegende Untertasse am Ufer der Themse gelandet. Fast sechs Jahre stand das Streitobjekt leer, kaum ein Mensch sprach mehr vom Millennium Dome. Jetzt macht er plötzlich wieder Furore, nur geht es diesmal nicht um Architektur. Das «Ufo», am Nullmeridian zu Greenwich gelegen, soll ein Casino werden, ein Supercasino, wie sie auf der Insel vielsagend raunen. Geplant ist ein Stück Las Vegas am Fluss, die grösste Spielhölle, die jemals auf britischem Boden entstand.
Spielfreudige Londoner

Falls alles so läuft, wie es sich Philip Anschutz, der amerikanische Bauherr, vorstellt, wird nächsten Sommer die erste Roulette-Kugel rollen. Ringsum soll eine Amüsiermeile entstehen, mit Kinos und Nachtclubs und einer Rockarena mit 20 000 Sitzen. Vom ursprünglichen Dome bliebe nichts als seine schneeweisse Schale. Naturgemäss sind es weniger die trockenen Fakten, die hitzige Rededuelle auslösen. Es ist auch keineswegs so, dass sich den Londonern kollektiv die Haare sträuben, wenn sie nur an Las Vegas denken. In ihrer Stadt gibt es kaum eine Kneipe, in der nicht irgendwo ein Spielautomat flackert, nicht selten eine ganze Batterie von einarmigen Banditen. Als Krönung nun also das erste Supercasino, so what? Die Debatte kommt vielmehr deshalb in Fahrt, weil es zugeht wie im realen Zocker-Leben. Zum Beispiel hat man einen Brief der Seelsorger von Greenwich ziemlich schnöde gefälscht.

Gezinkte Karten

«Unsere religiösen Traditionen raten allesamt vom Glücksspiel ab, es gibt jedoch einige Traditionen, die mehr erlauben als andere», schrieb die vereinte Geistlichkeit des Stadtteils, bestehend aus Christen und Juden, Moslems und Sikhs. Anschutz hatte sie um ihre Meinung gebeten und eine Antwort erhalten, die sich als «Jein» auslegen liess. Später liess der Tycoon indes mit einer geschönten Version des Briefs werben: «Während einige Gläubige das Glücksspiel als unvereinbar mit ihrer Religion ansehen, erkennen die Geistlichen das Recht an, in einem freien Land frei zu spielen.» Kein Wunder, dass sich die Gottesmänner fühlen, als hätte man ihnen gezinkte Karten untergejubelt. Scheich Hassan Ali Barakat, Chef des islamischen Zentrums, spricht von infamer Lüge und fährt schweres Geschütz auf. Dieser falsche Tempel bringe nur Ärger, treibe Keile zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kinder und erhöhe das Selbstmordrisiko. So weit hatte sich Barakat vorher gar nicht aus dem Fenster gelehnt. Ein Eigentor für Anschutz.

„Steuerzahlergrab“

Eigentlich schien alles klar, denn der Konzernchef aus Kalifornien wusste einen mächtigen Verbündeten an seiner Seite, das Kabinett Tony Blairs. Heilfroh ist sie, die Ministerriege, dass sich jemand ihrer Investruine erbarmt. Was musste sie sich nicht alles anhören wegen des Flops, «Steuerzahlergrab» zählte noch zu den milden Vokabeln. 1,1 Milliarden Euro hat es gekostet, das Riesenzelt. Aber dann schien niemand zu wissen, was man damit anfangen sollte. Die Millenniumsshow, schlug statt der erhofften 13 Millionen Besucher pro Jahr nur halb so viele in ihren Bann. Deprimiert warfen die Organisatoren die Flinte ins Korn. Alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde versteigert. Ob die glitzernde Las-Vegas-Vision ein Ende der Pechsträhne bedeutet, darauf wagt momentan niemand zu wetten. Dieser Tage werden die Londoner konsultiert, dann entscheiden die lokalen Behörden, irgendwann vor Weihnachten fallen die Würfel.
Frank Hermann, London