Gaming Disorder bei der WHO: Was seit der Einführung passiert ist – Zahlen, Wirkung, Kontroversen

Seit die WHO 2019 „Gaming Disorder“ in die ICD-11 aufgenommen hat (in Kraft seit 1. Januar 2022), hat sich viel getan: Die Diagnose ist weltweit anerkannt, Forschung und Versorgung haben einen Referenzrahmen – aber robuste, vergleichbare Fallzahlen bleiben rar. Was wir wissen, welche Prävalenzen seriöse Meta-Analysen schätzen, wie sich Jungen und Mädchen unterscheiden, und was die WHO-Einstufung konkret bewirkt hat.

Was die WHO genau definiert – und seit wann es gilt

Die WHO beschreibt Gaming Disorder (GD) in der ICD-11 als anhaltendes oder wiederkehrendes Spielverhalten mit drei Kernmerkmalen: Kontrollverlust, Priorisierung des Spielens gegenüber anderen Aktivitäten und Fortsetzung trotz negativer Konsequenzen. Die Störung muss in der Regel mindestens 12 Monate anhalten und zu erheblichen Beeinträchtigungen führen.

Formell wurde die ICD-11 2019 von der Weltgesundheitsversammlung angenommen; global in Kraft ist sie seit dem 1. Januar 2022. Ab diesem Zeitpunkt dient sie offiziell als neuer Standard – die Umsetzung erfolgt jedoch gestaffelt, Länder können vorübergehend weiter ICD-10 verwenden. Wichtig für die Einordnung: Die ICD-11-Definition (WHO) unterscheidet sich in Zuschnitt und Schwellen teilweise von der DSM-5-„Internet Gaming Disorder“-Forschungslinie; die WHO betont die Funktionsbeeinträchtigung und die drei Kernsymptome.

Gibt es „WHO-Fallzahlen“? – Was es gibt (und was nicht)

Die WHO veröffentlicht keine weltweit konsolidierten, jährlichen GD-Fallzahlen. Stattdessen stellt sie Definitionen, FAQs und Einordnungen bereit und betont, dass nur ein kleiner Teil der Gamer klinische Kriterien erfüllt – die Prävalenz schwankt je nach Studie, Messinstrument und Population.

Ein jüngerer WHO-Europa-Beitrag illustriert das Spannungsfeld: Dort wird berichtet, 12 % der Jugendlichen seien „at risk“ für problematisches Gaming (nicht identisch mit der klinischen Diagnose GD). Jungen sind häufiger betroffen (16 %) als Mädchen (7 %). Das zeigt Breite des Verhaltensspektrums – aber nicht die enge, klinische GD-Diagnose.

Was sagen belastbare Studien zur Prävalenz?

Die besten Orientierungswerte liefern Metaanalysen – mit dem Vorbehalt, dass Messinstrumente und Schwellen stark variieren:

  • Weltweite GD-Prävalenz ~3 %, adjustiert ~2 % bei strengeren Studien-Designs.
  • Eine weitere Metaanalyse schätzt 3,3 % (2,6–4,0); bei repräsentativen Stichproben 2,4 %, adjustiert (Trim-and-Fill) 1,4 %. Männer ca. 8,5 %, Frauen ca. 3,5 % – wohl gemerkt auf Basis der jeweiligen Screening-Kriterien.

Die Differenzen haben Gründe: Studien nutzen über 50 verschiedene Skalen, teils andere Schwellen, andere Recall-Zeiträume (1-Monat vs. 12-Monate), und untersuchen IGD (DSM-5-Konstrukt) statt GD (ICD-11). Genau diese Heterogenität erklärt, warum Schätzungen von <1 % bis >10 % reichen können – und warum die WHO sich zu globalen „exakten Zahlen“ zurückhält.

Kurzfazit zu Zahlen: Seriös ist, global ~1–3 % als Größenordnung für GD zu nennen, mit höheren Raten bei Jungen/Männern – aber stets abhängig von Definitionsstrenge, Instrument und Population.

Was hat die WHO-Einstufung konkret bewirkt?

1) Einheitlicher Diagnose-Referenzrahmen
Die Aufnahme in die ICD-11 gibt Kliniken, Kassen und Gesundheitssystemen einen einheitlichen Code und klare Kriterien. Seit 2022 werden internationale Gesundheitsstatistiken am ICD-11-Standard ausgerichtet – das erleichtert Vergleichbarkeit, Abrechnung und Versorgungsplanung. Staaten setzen die Umstellung allerdings schrittweise um.

2) Besserer Zugang zu Hilfe
Eine offizielle Krankheitsklassifikation senkt Hürden für Diagnostik, Überweisung, Erstattung und Versorgungsangebote – insbesondere in Systemen, die sich an ICD-Codes orientieren. Klinische Pfade können dadurch standardisiert werden.

3) Impuls für Forschung & Messinstrumente
Die ICD-11 hat eine Welle an Validierungs- und Messforschungen ausgelöst, u. a. Tests, die WHO-Kriterien direkt abbilden. Das verbessert Vergleichbarkeit gegenüber älteren, heterogenen Skalen – auch wenn die Landschaft weiterhin plural ist.

4) Prävention & öffentliche Debatte
Die WHO-Einstufung hat die gesellschaftliche Wahrnehmung geschärft: Gesundheitsbehörden, Schulen, Eltern und Anbieter diskutieren Medienkompetenz, Screen-Time-Management und Frühwarnzeichen intensiver. WHO-Europa-Daten zu Problemverhalten (12 % Risiko; Jungen 16 %, Mädchen 7 %) liefern hierfür präventive Ansatzpunkte – ohne die GD-Diagnose zu überdehnen.

5) Aber: Umsetzung ist „Work in Progress“
Die WHO betont, dass Länder Zeit für die ICD-11-Migration benötigen; es gibt keine Sanktion bei Verzögerungen. In der Praxis bedeutet das: unvollständige Abdeckung in Statistiken, Parallelbetrieb mit ICD-10, langsamer Datendurchfluss – was globale GD-Fallzahlen bislang erschwert.

Kontroversen und offene Baustellen

Von Beginn an gab es Kritik: Einige Wissenschaftler warnten vor Stigmatisierung leidenschaftlicher Spieler und vor Überdiagnosen wegen uneinheitlicher Instrumente. Die Grundtendenz bleibt: Diagnostische Sorgfalt ist essenziell; Spielzeit allein ist kein Kriterium. Gleichzeitig wuchs der Konsens, dass eine enge, funktionsorientierte Diagnose (WHO) nötig ist, um hilfebedürftige Minderheiten gezielt zu erreichen.

Ein zweiter Punkt: Messheterogenität. Metaanalysen zeigen, dass die Wahl des Instruments und Studiendesign die Prävalenzschätzungen massiv verzerren können – weshalb Trendvergleiche über Zeit und Regionen vorsichtig zu interpretieren sind. Genau hier soll die ICD-11-Orientierung künftig mehr Standardisierung bringen.

Zahlenvergleich: Klinische GD vs. „problematisches“ Gaming

  • Klinische GD (ICD-11): best estimate global ~1–3 % (je nach Studienqualität/Definition), männlich > weiblich.
  • Problematisches Gaming (Risiko/Screenings): höhere Anteile, z. B. WHO-Europa 12 % bei Jugendlichen (m: 16 %, w: 7 %) – kein klinischer GD-Wert, aber präventiv relevant.

Interpretation: Die WHO-Diagnose adressiert eine kleine, klinisch relevante Minderheit, während Risikoverhalten deutlich weiter verbreitet ist. Für Versorgung und Prävention sind beide Ebenen wichtig – die erste für gezielte Therapie, die zweite für Schule, Elternarbeit, Jugendschutz.

Bottom line: Was hat die WHO seit der Einführung geschafft?

Greifbar sind heute ein klarer Diagnose-Standard, bessere Vergleichbarkeit, Anschub für Forschung und mehr Aufmerksamkeit in Prävention und Versorgung. Noch unvollständig sind globale Routinedaten und vollständige nationale Umsetzung – deshalb gibt es keine verlässlichen WHO-„Fallzahlen“ im Sinne eines jährlichen Welt-GD-Registers. Mit wachsender ICD-11-Durchdringung ist allerdings zu erwarten, dass Datenqualität und -vergleichbarkeit in den nächsten Jahren spürbar zulegen.