EMNID-Studie: Krankhafte Glückspieler leiden an einer multiplen Spielstörung

Deutscher Glücks- und Gewinnspielmarkt verändert sich – Lotterien weiter vorn

Im Vorfeld der politischen Diskussion um eine neue Glückspielordnung in Deutschland hat TNS Emnid im Frühjahr in einer groß angelegten repräsentativen Meinungsumfrage das Geldspielverhalten der Deutschen untersucht. Um statistisch belastbares Datenmaterial über das Verhalten aller Glücksspieler, auch der kleinen Zahl der problematischen und pathologischen, zu erhalten, musste TNS Emnid 15.000 Interviews durchführen.
Die Ergebnisse wurden am 02.11.2011 auf einer Pressekonferenz in Berlin präsentiert:

Zusammenfassung:

Zwei Drittel der erwachsenen Deutschen haben in den vergangenen 12 Monaten wenigstens einmal mit und um Geld gespielt. Von diesen Glücksspielern spielen 61% Lotto, 29% Fernsehlotterien, 10% Kartenspiele um Geld; 6% Poker um Geld, 6% Staatliche Klassenlotterien, 5% Geld-Gewinn-Spielgeräte in Gaststätten oder Spielstätten, 5% Fußballtoto, 4% Roulette etc. in Spielbanken und 3% Sport- und Pferdewetten. Im Durchschnitt spielen die Glücksspieler zwei unterschiedliche Spielformen, krankhafte Spieler hingegen beteiligen sich an fünf Spielarten parallel – und zwar häufig und intensiv. Die Studie von TNS Emnid räumt mit dem Vorurteil auf, dass krankhafte Spieler auf ein spezielles Spiel fixiert seien. So gibt es weder den krankhaften Wett-Freak noch den zwanghaften Automaten-Zocker. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass es in der erwachsenen deutschen Bevölkerung einen verschwindend geringen Prozentsatz (0,23 %) krankhafter Spieler gibt, die gleichzeitig auf alles „zocken“, was ihr krankhaftes Spielbedürfnis befriedigt. Hier legt die Untersuchung ein radikales Umdenken nahe. Wenn es um die Eindämmung und Bekämpfung krankhaften Spielverhaltens geht, gehört die Spielerpersönlichkeit ins Zentrum der Betrachtung und nicht das Spiel, dem der krankhafte Spieler mehr oder minder zufällig frönt. „Dies stellt“, so K.P. Schöppner, Geschäftsführer von TNS Emnid“, die Spielerschutz-Politik vor neue Herausforderungen. Henning Haase, Professor für Psychologie an der Universität Frankfurt, der die Studie wissenschaftlich begleitet hat, konkretisiert: „Wer eine Spielform bekämpft und meint, damit das Problem des krankhaften Spielens in den Griff zu bekommen, der irrt“. Vielmehr lassen die Ergebnisse der Studie erwarten, dass die Zurückdrängung oder gar das Verbot eines Spielangebotes, den krankhaften Spieler nicht dazu bringt, mit dem Spielen aufzuhören, sondern ihn nur dazu treibt, die Spielformen zu wechseln.

Die Ergebnisse im Detail:

Krankhaftes Spielen: „Spiel-Cocktail“ aus fünf oder mehr Spielen

In dieser Studie mit 15.002 Interviews in Deutschland fand das Forscherteam heraus, dass nahezu alle pathologischen Spieler, das sind 0,23 % der erwachsenen Gesamtbevölkerung, an einer multiplen Spielstörung leiden. Das heißt, sie nutzen in krankhafter Weise im Durchschnitt fünf unterschiedliche Zufallsspielarten mit Geldeinsatz; zum Vergleich: bei den zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung, die sich an Glücksspielen beteiligen sind es nur knapp zwei Spielarten. Jeder pathologische Spieler hat seinen speziellen „Spiel-Cocktail“, der sein krankhaftes Spielbedürfnis am ehesten befriedigt. Wenn jemand pokert, ist es zum Beispiel sehr wahrscheinlich, dass er parallel auch noch sonstige Kartenspiele um Geld spielt und dass er auf Sportereignisse wettet.
Pathologische Spieler, die an Geldspielgeräten in Gast- oder Spielstätten spielen, sind zugleich auch als Spieler in staatlichen Spielbanken und am Pokertisch zu finden. Prof. Haase sieht in der multiplen Spielstörung eine Parallele zum Alkoholmissbrauch: „ Es gibt keinen Bier-Alkoholiker, der vom Champagner-Alkoholiker zu unterscheiden wäre. Es gibt nur den Alkoholiker, der seinen Alkoholbedarf deckt, je nach Gusto oder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit oder leichter Erreichbarkeit mit Bier, mit Schnaps, mit Rotwein oder eben auch mit Champagner.“ Beim pathologischen Spielmissbrauch sei dies nicht anders. Der Spieler sucht nach dem „ultimativen Kick“, den er in seiner bevorzugten Spielform am ehesten finden kann. Ist dieses Spiel für ihn in dem Augenblick, in dem er es spielen will, nicht greifbar, wendet sich der pathologische Spieler anderen Spielformen und –angeboten zu. Das nach Befriedigung strebende Spielbedürfnis sei – natürlich ohne die stoffliche Komponente – dem Zwang vergleichbar, der den Alkoholiker zur Wiederherstellung eines für ihn erträglichen Alkoholspiegels treibe. Dazu ist die Spielform nur noch von untergeordneter Bedeutung. Deswegen ist eine auf bestimmte Spielformen gerichtete Prohibition von vornherein zum Scheitern verurteilt. Professor Haase: „Wenn das eine Spiel gerade verboten wird, ist das nächste schon aus dem Hut oder aus dem Internet gezaubert.“

Krankhaftes Spielen folgt „Modewellen“

Die Aufteilung des Geld-Budgets, das die krankhaften Spieler für ihr Spiel-Cocktail, aufwenden, macht deutlich, dass die multiple Spielstörung auch „Modetrends“ folgt. Den Löwenanteil am monatlichen Spielbudget der pathologischen Spieler macht der Aufwand für Pokern mit 20,7 aus. Der zweitgrößte Anteil in Höhe von 16,2 wird für die Spielangebote der staatlichen Spielbanken (mit Ausnahme von Poker) ausgegeben.
Auf dem dritten Rangplatz finden sich die Geld-Gewinn-Spielgeräte in Spiel- und Gaststätten mit 15,4 , dicht gefolgt von Lotto und Loslotterien mit jeweils 13,5 der Spielbudgets. „Vor zehn Jahren hat die Aufteilung des Spielbudgets sicher noch ganz anders ausgesehen“, so Professor Haase, „denn damals war Pokern noch ein Exot unter den Glücksspielen – zumindest bei uns in Deutschland.“ Solche Modewellen ziehen die öffentliche Aufmerksamkeit und damit den Verdacht auf sich, auch eine Pathologie-Welle zu verursachen. „Diese Vermutung trifft nicht zu, denn seit Jahren bleibt die Quote der pathologischen Spieler unter der ohnehin geringen Marke von 0,6 % in der Bevölkerung“, erläutert Professor Haase. Offensichtlich haben sich nur die Marktanteile verschoben.

Spielphasen im Lebensverlauf

Weitergehend als bisherige Untersuchungen zeigt die EMNID-Studie, dass das Spielverhalten im Zusammenhang mit bestimmten Lebenszyklen steht. Außer Lotto bindet keines der Glücksspielangebote die Spieler so lange: im Durchschnitt spielen sie schon seit 19 Jahren und sind im Mittel 54 Jahre alt. Im Vergleich dazu spielen die durchschnittlich 31jährigen an Geldgewinnspielen in Spielhallen im Schnitt erst seit 5 Jahren. Offensichtlich ist die Präferenz für verschiedene Glücksspielformen alters- und auch teilweise geschlechtsabhängig. So sind von den Poker-, Sportwetten- und Fußballtoto-Spielern 80% männlich, bei TV-Lotterien und -spielen sowie bei den Loslotterien dominieren hingegen die Frauen. Trotz dieser Präferenzen kommen nahezu alle Kombinationen von Spielformen vor und sie verändern sich. Zwei Drittel der Bevölkerung hat sich innerhalb der letzten 12 Monate mindestens einmal an einem der einschlägigen Glücksspiele beteiligt.
Bei den krankhaften Glücksspielern lässt sich in den Altersgruppen eine ungleiche Verteilung feststellen. Junge Erwachsene (bis 25 J.) sind unter den pathologischen Spielern mit einem Drittel am stärksten vertreten. Nur 5,7 der pathologischen Spieler finden sich in der Gruppe der 36 – 45-jährigen. Im weiteren Lebensverlauf steigt die Quote der pathologischen Spieler wieder deutlich an (23,5 der pathologischen Spieler sind zwischen 46 und 55 Jahre alt). Senioren (66 J. und älter) finden sich unter den pathologischen Spielern nur zu 8,6 . Pathologisches Spielverhalten zieht sich nicht linear durch alle Altersgruppen.

Weil die Forscher wissen wollten, wie schwer es ist, mit einem Glücksspiel aufzuhören, haben sie exemplarisch diejenigen Personen gefragt, die zwar nicht in den letzten 12 Monaten, aber davor an Slotmachines und Geldgewinnspielgeräten in Gaststätten und Spielhallen gespielt hatten. Das Ergebnis: 94
gaben an, dass es ihnen überhaupt nicht schwer und nur 1%, dass es ihnen sehr schwer gefallen sei. Die meisten gaben als Grund an, dass sie schlicht keine Lust mehr dazu gehabt hätten. Gefragt, wie sie es gemacht hätten, gaben die meisten an, dass sie einfach so mit dem Automatenspiel aufgehört hätten; sehr wenige gaben an, Hilfe in Anspruch genommen zu haben. Nur die Spieler, die weiterhin andere Spielformen in pathologischer Weise nutzen, gaben deutlich häufiger (19,2 ) an, dass es ihnen sehr schwer gefallen sei, mit dem Automatenspiel aufzuhören. Damit, so Haase, werde einmal mehr der Beweis erbracht, dass die Bindung an eine bestimmte Spielform bzw. an ein bestimmtes Spielverhalten generell kein lebenslang währendes Schicksal, sondern ein vorübergehendes Phasenereignis sei, das meistens ohne fremde Hilfe überwunden werden könne.

Gleichwohl, so Haase, dürfe nicht verkannt werden, dass es Menschen gebe, deren Spielverhalten pathologische Züge aufweise. Häufig sei das aber nur eine von mehreren Ausdrucksformen einer kranken Persönlichkeit. So habe die Studie erbracht, dass die Befragten, die sich selber als spielsüchtig einschätzen (0,7
), bei sich selber eine über das Spielen hinausgehende Mehrfachpathologie feststellen: die Hälfte von ihnen bezeichnet sich zudem als zigaretten- und internetsüchtig, Alkohol und illegale Drogen spielen ebenfalls eine, wenn auch untergeordnete Rolle.

„Nicht das Spielzeug ist das Problem, sondern der Spieler“
„Die Ergebnisse unserer Studie“, so Professor Haase als Sprecher des Forscherteams, „fordern
ein Umdenken in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen pathologischer Spielstörungen.“ Wenn man sie angesichts der minimalen Verbreitung in der Bevölkerung überhaupt als relevant ansehe, dann sei nicht das „Spielzeug“ das Problem, sondern der Spieler. Wer in Zeiten des omnipräsenten Glückspielangebots im Internet über Spielersperren in staatlichen Spielbanken, über Sperrzeiten von Spielhallen und die zahlenmäßige Beschränkung von Lizenzen für Wettanbieter diskutiere, müsse sich dessen bewusst sein, dass er über einen Schein-Schutz rede, mit dem pathologisches Spielverhalten nicht bekämpft werden könne. Vielmehr müsse es um die Früherkennung von pathologischen Spielstörungen und um die Entwicklung qualifizierter Hilfsmassnahmen gehen.
Allerdings stoße auch die Früherkennung angesichts der Glücksspielangebote im Internet an ihre Grenzen. „Im Internet gibt es keinen Croupier, keine Mitarbeiter einer Lotto-Annahmestelle oder einer Spielhalle und keinen Gastwirt, die beobachten können, ob jemand auffällig spielt“, erläutert Professor Haase. Deswegen sei es dringend erforderlich, die Kompetenzen des Einzelnen im Umgang mit Glücks- und sonstigen Geldspielen zu entwickeln. „Dies hilft zwar nicht denjenigen, die neben anderen pathologischen Belastungen auch Spielstörungen haben,“ resümiert Henning Haase, „aber es kann vor Kontrollverlusten beim Spielen schützen, die durch Unwissenheit oder Leichtfertigkeit begründet sind.“

Bielefeld, Frankfurt, Berlin, 2.11.2011

Nachfragen: Prof. Dr. Henning Haase. Tel.: 069 77 66 05

Auftraggeber und Deklaration möglicher Interessenkonflikte
Bei dieser Studie handelt sich um die erste große repräsentative Untersuchung zum Glücksspielverhalten in Deutschland, die nicht mit Fördermitteln aus der Glücksspielabgabe der Unternehmen, die dem staatlichen Glücksspielmonopols unterliegen, durchgeführt wurde. Die Studie wurde im Auftrag der AWI Automaten-Wirtschaftsverbände-Info GmbhH in der Zeit von Februar bis Juni 2011 durchgeführt. Die Mitarbeiter der Studie waren unabhängig in der Auswahl der Untersuchungsinstrumente und Fragestellungen, der Planung der Untersuchung sowie in der Auswertung und Interpretation der Ergebnisse.