Psychologische Basisstrategien

Michael Keiner
Poker-Experte
E-Mail: laserase@aol.com


Heute wende ich mich dem Spielertypus zu, der uns in jeder Pokerpartie die meisten Schwierigkeiten als Gegner bereiten wird. Hinter dem so unscheinbar erscheinenden Namen neutraler Spielertypus verbirgt sich in den allermeisten Fällen eine echte Herausforderung.

Warum ist das so?

Nun, grundsätzlich kann ein neutraler Spieler seine zugrundeliegende Strategie innerhalb kürzester Zeit den Erfordernissen der Mitspieler und der Kartenfolge seiner Hände anpassen. Er spielt 2 Runden lang tight, um dann plötzlich in der 3. Runde mehr als jede 2. Hand preflop freiwillig einzubezahlen. In unserer Statistik erscheint er neutral, in Wirklichkeit ändert er nur ständig seine Strategie und passt sie der jeweiligen Situation an. Auf jeden Fall ist dies ein eindeutiges Indiz dafür, dass uns jemand gegenübersitzt, der genau weiß, was er tut. Natürlich gibt es auch noch eine andere Form des neutralen Spielers. Wenn wir davon ausgehen, dass er in Abhängigkeit von seiner Position etwa jede 3. bis 4. Hand mitspielt, müssen wir unterstellen, dass seine Starthand wesentlich besser als Random ist, sie aber aufgrund der Vielzahl an Möglichkeiten nicht eindeutig einer speziellen Kategorie zuzuordnen ist. Hier wird schon das erste Problem offensichtlich: Ich kann meinen Gegner preflop kaum einschätzen. Der neutrale Spieler ist oft in der Lage, marginale Hände am Flop optimal zu spielen und selbst mindestens genauso schnell Informationen über seine Gegner einzusammeln, wie die aufmerksamen Mitspieler über ihn. Im Livegame macht er einen eher ruhigen, relativ emotionslosen Eindruck und seine beobachtenden Blicke streifen häufig über die Mitspieler, auch oder gerade dann, wenn er nicht am jeweiligen Spiel beteiligt ist.

Der neutral-passive Spieler

Eigentlich ist der neutral-passive Spieler eher ein seltenes Phänomen. Wie Ihr in den vorangegangenen Folgen unschwer feststellen konntet, ist die passive Strategie generell ein nachteiliges Verhalten am Tisch, da sie ihren Schwerpunkt auf die Reaktion setzt, anstelle lieber selbst das Kommando zu übernehmen. Wenn ich also annehme, dass ein neutraler Spieler weiß, was er tut und sich intensiv mit dem Pokerspiel auseinander gesetzt hat, wird er kaum bewusst eine passive Spielstrategie verfolgen. Es gibt jedoch ein paar Ausnahmen. Neutral-passiv erscheinen gute Spieler, die neu an einen Tisch mit vielen ihnen unbekannten Gesichtern kommen und erst einmal Informationen über ihre Mitspieler sammeln wollen. Darüber hinaus gibt es auch Menschen, die, so irrational dies auch klingen mag, in langjähriger Erfahrung und zigtausend gespielten Händen ein Gespür dafür entwickeln, in welchen Phasen der Partie die Karten für sie „kalt“ werden, sie also kaum einen Flop treffen können. Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese Aussage bei vielen Lesern skeptische Blicke hervorrufen wird, stehe aber aufgrund meiner eigenen Beobachtungen und Erfahrungen voll und ganz dahinter. In diesen „kalten“ Phasen schraubt der neutrale Spielertyp oft seine Aktion zurück und erscheint eher passiv.

Verlustminimierung lautet die Devise!

Eine dritte Gruppe von neutral-passiven Spielern sind Leute, die sich in einer Übergangsphase in der Entwicklung ihrer Pokerfähigkeiten befinden. Spieler, die sich intensiv mit Optimierungsstrategien beschäftigen und weiterbilden, kommen irgendwann zwangsläufig in ein neutrales Stadium, solange nicht emotionelle oder charakterliche Eigenschaften dem entgegenstehen. Ist diese Phase erreicht, bedarf es zunächst noch einiger Erfahrungen und Erfolgserlebnisse, bevor das Erlernte in einer aggressiven oder aktiven Strategie umgesetzt werden kann. Ich nenne dies die Konsolidierungsphase, die bei einigen Spielern monatelang anhalten kann. Früher oder später wird sich hier eine Tendenz ausbilden, ob der neutral-passiv in einen tight-aktiven Stil zurückfällt oder er neutral-aktiv wird. Es gibt noch eine weitere Gruppe neutral-passiver Spieler, die temporär in diesen Modus verfallen. Leute, die an einem Tisch in relativ kurzer Zeit überproportional hohe Gewinne einfahren konnten, psychologisch am Liebsten das Spiel beenden würden, sich dies aber aus gesellschaftlichen/sozialen Gründen im Moment nicht trauen, verfallen gerne in einen neutral-passiven Stil, manche sogar in einen tight-passiven Stil. Der gleiche Mechanismus greift ebenfalls in No Limit oder Pot Limit Runden bei einigen Spielern mit hohem Tablestake, die sich plötzlich mehreren Mitspielern mit ähnlich hoher Geldauflage gegenüber sehen. In dieser Situation wird der „Gewinnsicherungsmechanismus“ dominant und das Spiel passiv.

Preflop bevorzuge ich gegen neutral-passiv das bereits erwähnte GAP-Prinzip und mache nur leichte Abstriche, wenn ich eine gute Position habe. Auf Flop und Turn spiele ich meine Karten gegen neutral-passiv sehr technisch, mit guten Händen versuche ich natürlich, möglichst viel Geld im Pot unterzubringen, marginale Hände spiele ich deutlich vorsichtiger als gegen loose-passiv. Mit Straßen- oder Flushdraws tendiere ich eher dazu, den Pot klein zu halten, denn Neutral-passiv sind viel schwerer zu bluffen als Tight-passiv. Generell muss ein Bluff bereits am Flop sehr gut logisch aufgebaut werden (z.B. bei einem verpassten Draw) um am River mit einer höheren Wette (mindestens 50 % vom Pot) erfolgreich durchzugehen. Seit Euch darüber bewusst: Der neutral-passive Spieler kennt das Spiel und ist durchaus in der Lage, Eure Gedankengänge auf einer logischen Grundlage nachvollziehen zu können.

Schlecht inszenierte Bluffs können somit zu einer teuren Erfahrung werden. Er selbst beherrscht auch die Kunst des Bluffs, wendet sie aber nur relativ selten an. Wenn ein neutral-passiv die Initiative ergreift, ist es zu mehr als 80 ein „value bet“, die restlichen 20 werden fast immer durch gute Draws motiviert sein und sind daher höchstens als Semibluffs anzusehen. Der Bluff am River nach einem verpassten Monsterdraw ist beim neutral-passiven Spieler die absolute Ausnahme, aber durchaus möglich.

Der neutral-aktive Spieler

Ihr sucht einen wahren Gegner am Pokertisch? Hier ist er! Während der tighte Spieler psychologisch von seiner Angst Geld zu verlieren dominiert wird und der loose Spieler adäquate Mittel zur Egoprofilierung oder zur aktionsreichen Unterhaltung sucht, ist der neutral-aktive Spieler mit einer einzigen Motivation am Tisch: Er will gewinnen, soviel wie möglich und sooft wie möglich. Bekannte Vertreter dieses Spielstils sind Chris Fergusson, Barry Greenstein, Johnny Chan, Benjamin Roberts.

Bezeichnend ist auch, dass nur die neutral-aktiven Spieler sowohl bei Turnieren, als auch im Livegame überdurchschnittlich erfolgreiche Gewinner sind. Während der tighte Spieler sich im Livegame meistens recht gut behaupten kann, aber im Turnier kaum Erfolge verbucht, weil er sich regelmäßig „totblindet“ und der loose Spieler oft auf heroische Turniererfolge verweisen kann, die Gewinne dann aber in Windeseile im Livegame verliert, beherrscht der neutral-aktive Spieler die Kunst, sich in beiden Disziplinen gleichermaßen durchzusetzen. Für ihn ist der Stellenwert, Informationen über seine Mitspieler einzusammeln, von höchster Priorität. Er ist jederzeit in der Lage, seine Strategie auf tight oder loose umzustellen, variiert die Höhe seiner Wetten, um in kein stereotypes Muster zu fallen, was leichter lesbar wäre. Beim Spielen des Boards nutzt er seine Chips, um Fragen zu stellen und kann sich oft optimal an die jeweiligen Moves seiner Mitspieler anpassen.

Die vernünftigste Strategie beim Umgang mit dem neutral-aktiven Spieler ist streng technisch orientiert. Versucht im Lauf der Partie soviel Detailinformationen über ihn einzusammeln, wie es Euch nur möglich ist. Hat er Vorlieben für irgendwelche Hände? Raist er fast immer am Button, wenn alle anderen vor ihm ihre Hand gefoldet haben? Wie oft wurde er bei Bluffversuchen erwischt? Wie verhält er sich im Falle eines check-raise? Wie oft setzt er selbst check-raises ein? Fazit ist: Wenn Ihr einmal einen Mitspieler als neutral-aktiv kategorisiert habt, fängt die eigentliche Aufgabe der Informationsbeschaffung erst an, um seine individuellen Schwächen herauszufinden. Prinzipiell wird hier jedes statische Aktionsmuster zu keinem langfristigen Erfolg führen, weshalb ich auch darauf verzichte, Standardaktionen im Umgang mit dieser Spezies zu postulieren. Spielt mit ihm Euren Karten, aber spielt sie gut. Schützt Eure guten Hände durch entsprechend hohe Wetten, der neutral-aktive Spieler kennt sich meistens sehr gut mit Potodds aus und weiß daher genau, zu welchem Zeitpunkt er sich von einem Draw verabschieden muss. Bei allem Respekt vor seinen Fähigkeiten, die Konfrontation mit ihm sollte niemals mit Angst im Hinterkopf geführt werden, sonst seid Ihr sein nächstes Opfer.

Im letzten Teil werde ich mich dann noch 2 Sonderformen zuwenden, dem Spieler im Lauf und dem Spieler „on tilt“.

Euer Michael