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Schulden, Isolierung, Verwahrlosung Bilanz eines Spielsüchtigen

Als Nils erstmals Geld in einen Automaten steckt, ahnt er nicht, dass sein Leben danach ein anderes sein würde. Über den schnellen Weg in die Spielsucht - und den langen, beschwerlichen Ausstieg.
Zwei Jahre lang bestimmte die Spielsucht Nils' Leben

Zwei Jahre lang bestimmte die Spielsucht Nils' Leben

Foto: Julia Köppe/ SPIEGEL ONLINE

"Hätte ich nur nicht gewonnen." Dieser Gedanke kreist immer und immer wieder durch Nils' Kopf, seit Jahren. Wenn er beim ersten Mal verloren hätte, ist er sich heute sicher, wäre sein Leben anders verlaufen. Nils, 34, kurze, hellbraune Haare, breite Schultern, jungenhaftes Gesicht, hätte seine Freunde nicht belogen, die Familie nicht beklaut. Er hätte nicht 15 Stunden am Tag in der Spielbank verbracht. Und er hätte öfter etwas anderes als gebratene Zwiebeln gegessen, weil er nicht jeden Cent fürs Zocken hätte ausgeben müssen.

Nils ist einer von schätzungsweise 180.000 Menschen in Deutschland, die unter pathologischer Spielsucht leiden. Weitere 326.000 Menschen gelten als akut gefährdet. Die meisten von ihnen sind wie Nils Männer um die 30 Jahre.

"Es kann jeden treffen"

Lange glaubten Forscher, bestimmte psychische und genetische Eigenschaften machten Menschen anfällig für Süchte. "Heute wissen wir, dass es so etwas wie Suchtpersönlichkeiten nicht gibt", sagt Thomas Hillemacher, Ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Nürnberg, der schon viele Spielsüchtige behandelt hat. Hillemacher ist sich sicher: Es kann jeden treffen. Und es beginnt meist alles ganz harmlos.

Bei Nils fing alles mit billigem Bier an, das ihn und seine Kumpel 2014 in eine Berliner Spielbar lockte. Sie hatten gerade erst angefangen, Maschinenbau zu studieren, und wenig Geld. Zehn Euro schob Nils in einen Automaten, der das Geld gierig schluckte. Wahllos drückte der damals 30-Jährige auf die Knöpfe der Maschine - und plötzlich, ohne dass er verstanden hätte wie, waren aus den zehn Euro 100 geworden.

Den Großteil des Geldes verfeierten die Freunde noch in derselben Nacht. Am nächsten Morgen fand Nils noch 40 Euro in seiner Tasche. Der Student erinnerte sich an das Gefühl, zu gewinnen: Es kribbelte in seinem Bauch, als sei er verliebt. "Vielleicht", dachte er, "schaffe ich es noch mal." Noch am selben Tag kehrte er in die Spielhalle zurück. Die Falle war zugeschnappt.

Am Ende gewinnt immer die Bank

Statt in die billige Daddelhalle zog es Nils bald in die Berliner Spielbank, beim Roulette witterte er das ganz große Geld. Erst setzte er nur wenige Euro auf einmal, doch er erhöhte schnell die Einsätze, manchmal auf 500 Euro pro Runde, spielte an mehreren Tischen gleichzeitig. Er klügelte ein todsicheres Rechensystem aus, so glaubte er zumindest. "Wenn die Kugel in der Vorrunde bei einer bestimmten Zahl landet, wird sie beim nächsten Mal etwa acht Plätze weiterrutschen", war er überzeugt.

Das System schien sich zu bewähren. In nur einer Nacht gewann Nils 78.000 Euro. Doch zwei Tage später hatte er alles wieder im Spielkessel versenkt. Statistik lässt sich eben nicht überlisten - am Ende gewinnt immer die Bank.

Trotzdem wartete Nils jeden Tag darauf, dass es elf Uhr wurde - dann öffnete die Spielbank . Erst wenn um drei Uhr morgens die letzte Kugel gefallen war, ging er wieder heim. Die Mitarbeiter begrüßten ihn mit Namen, ermutigten ihn, wenn er mal wieder verloren hatte. Hilfe bot ihm niemand an, sagt er.

"Vor der Realität flüchten"

Spielbanken sind verpflichtet, "Spieler zu verantwortungsbewusstem Spiel anzuhalten und der Entstehung von Glücksspielsucht vorzubeugen", heißt es in Paragraf 6 des Glücksspielvertrags. Doch obwohl Nils 15 Stunden am Tag in der Spielbank verbrachte, will niemand etwas von einer Spielsucht geahnt haben. Auch woher die Hunderte Euro kamen, die der Student jeden Tag verspielte, wollte niemand wissen.

Solange Nils am Roulette stand, ging es ihm gut. Das sei typisch für Spielsüchtige, sagt Psychiater Hillemacher: "In der Spielhalle können sie vor der Realität flüchten." Viele müssten ein Casino nur betreten und das Glückshormon Dopamin werde in den Belohnungszentren des Gehirns ausgeschüttet. Ob sie gewinnen, sei nebensächlich. Viele suchten sich erst viel zu spät Hilfe, wenn sie bereits hochverschuldet oder straffällig geworden seien.

Laut Hillemacher gibt es mehrere Warnsignale für eine mögliche Spielsucht:

  • Das Spielen dient als Emotionsregulierung. Bei Stress oder Ärger führt der Weg automatisch zur Spielhalle.

  • Zwei oder drei Tage am Stück ohne zu spielen sind nicht möglich.

  • Kontrollverlust: Pathologische Spieler halten sich oft nicht an selbst gesetzte Limits, sondern gehen sofort wieder zur Bank, wenn sie alles Geld verspielt haben.

  • Süchtige spielen oft an mehreren Automaten gleichzeitig.

Zu Hause überkam Nils jede Nacht Panik. Er starrte an die Decke seines WG-Zimmers und grübelte, wie er an Geld kommen könnte. Seinen Fernseher hatte er längst verkauft, das Handy versetzt. Für seine Sucht klaute er Geld von Verwandten und Freunden, zahlte keine Miete mehr, verkaufte Dinge, die er gar nicht besaß. Wenn er erst gewonnen hätte, dachte er, könnte er alles zurückzahlen.

Doch der Plan ging nicht auf.

Mit der Zeit wuchs seine Verzweiflung. Er war mittlerweile abgemagert, klaubte sich Essen zusammen, das in der WG-Küche herumlag oder aß Erdnüsse, die es für zwei Euro pro Packung in der Spielbank gab. Viel zu oft reichte es nur für angebratene Zwiebeln. Familie und Freunde sorgten sich um ihn, fragten ihn, wo er die Nächte über blieb. Und Nils fand immer neue Erklärungen und spann alle in ein Netz aus Lügen, an die er irgendwann sogar selbst glaubte.

"Angehörige können nur wenig tun"

Seine Mitbewohner schmissen ihn irgendwann aus der Wohnung. "Damals war mir das egal", sagt Nils. Er dachte nur daran, wie er wieder in die Spielbank kommt. Er zog zurück zu seinen Eltern nach Mitteldeutschland, behauptete, Stress mit seinen Mitbewohnern gehabt zu haben. Nach Berlin fuhr er weiterhin mehrmals pro Woche, angeblich um zur Uni zu gehen, dabei studierte er schon lange nicht mehr. Ein Zugticket hatte er nie. "Ich bin immer 1. Klasse gefahren", erinnert er sich. "Ich wollte so wenig Zuschauer haben wie möglich, falls ich erwischt werde." Gut 40-mal wurde er beim Schwarzfahren ertappt. Die Mahnbriefe stapelten sich, er öffnete nicht einen.

"In so einer Situation können Angehörige nur wenig tun", sagt Hillemacher. Sie könnten den Betroffenen nur immer wieder ermutigen, sich Hilfe zu holen.

Doch Nils' Familie ahnte nichts von seinem wahren Problem. Selbst als er wegen Selbstmordgedanken in eine Klinik ging, erzählte er niemandem von der Spielsucht. "Ich hätte ewig weitergespielt", ist Nils sich sicher. "Obdachlosigkeit, Tod - alles wäre möglich gewesen."

Erleichterung, als das Lügengerüst einstürzte

Der Ausstieg kam für ihn plötzlich und ungewollt: Von einem Tag auf den anderen ließ ihn die Spielbank nicht mehr rein. Er sei gesperrt worden, sagten ihm die Angestellten. Später erfuhr Nils, dass eine Freundin endlich hinter sein Geheimnis gekommen war. Akribisch hatte sie Beweise zusammengetragen und so die Sperrung erwirkt. Als Nils begriff, dass sein Lügengerüst krachend eingestürzt war, spürte er vor allem eines: Erleichterung. Er wusste, dass es so nicht weitergehen konnte.

Nils begann eine ambulante Therapie und traf sich regelmäßig mit anderen Spielsüchtigen in einer Selbsthilfegruppe (die Website Spielsucht-Therapie  bietet eine Übersicht über Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Kliniken). Nils und die Freundin, die seine Spielsucht aufgedeckt hatte, wurden ein Paar, sie verlobten sich. Kurz vor Weihnachten erzählte sie ihm, welche Geschenke sie ihrer Familie machen wolle. Er schämte sich, weil er ihr nichts Teures bieten konnte.

Um an Geld zu kommen, ging Nils ausgerechnet in eine Spielhalle. "Nur ein paar Mal", sagt er. Er habe auch nur wenig Geld verloren. Doch der Vertrauensbruch reichte, seine Verlobte trennte sich von ihm. Nils war verzweifelt, bereute den Rückfall, schwor sich, nie wieder zu spielen. Das ist rund anderthalb Jahre her, rückfällig ist er seitdem nicht mehr geworden. Er hofft, dass das so bleibt.

Bilanz: ein Berg Schulden, zerstörte Freundschaften, verlorene Zeit

Heute weiß Nils, dass hinter seiner Sucht eine mangelnde Impulskontrolle steckt. Spontane Kaufentscheidungen hat er sich deshalb abgewöhnt. Selbst wenn er sich nur einen Pullover kaufen will, schläft er eine Nacht darüber. Seine derzeitige Freundin und seine Mutter haben jederzeit Zugriff auf sein Konto.

Sein Beispiel zeigt, wie wichtig Spieler-Sperren sind, um Spielsüchtige vor sich selbst zu schützen. Doch bislang gelten sie nur für staatliche Spielbanken, nicht für gewerbliche Automatenhallen. Pläne für eine bundesweit gültige, personalisierte Spielerkarte scheiterten - nicht zuletzt am Widerstand der FDP. Die Liberalen pflegen ein enges Verhältnis zur Glücksspielindustrie .

Es ist ein einträgliches Geschäft. Allein im Jahr 2017 machte der deutsche Glücksspielmarkt einen Umsatz von 46,3 Milliarden Euro - ganz legal.

Auch Nils kurbelte das Geschäft an. Durch die Spielsucht hat er gut 80.000 Euro Schulden angehäuft. Er stottert die Summe nun allmählich ab, etwa 400 Euro im Monat, mehr ist bei seinem aktuellen Gehalt nicht drin. Viele seiner Gläubiger, darunter auch ehemalige Bekannte, werden Jahre auf ihr Geld warten müssen. Das nagt an Nils. Er überlegt deshalb, die Spielbank zu verklagen und die 80.000 Euro zurückzufordern. Ob er Erfolg haben würde, ist fraglich.

Die Bilanz seiner Spielsucht: Schulden, zerbrochene Freundschaften, eine geplatzte Verlobung, viel verlorene Zeit. "So schlimm die Zeit war, sie gehört zu mir", sagt Nils trotzdem. Seine Familie und viele enge Freunde haben ihm mittlerweile verziehen. Bald zieht er mit seiner Freundin in eine andere Stadt. Ob es da eine Spielbank gibt? "Weiß ich gar nicht", sagt Nils und lacht.

Im Video: Wenn Glücksspiel das Leben zerstört - Das Spiel mit der Sucht

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