BVerfG: Sofortige Vollziehung von Sportwetten-Verboten verfassungswidrig

Rechtsanwalt Dr. Martin Bahr

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Das BVerfG (Beschl. v. 27.04.2005 – Az.: 1 BvR 223/05) hat entschieden, dass die sofortige Vollziehung von Sportwetten-Verboten verfassungswidrig sein kann.

In dem konkreten Fall hatten die Gerichte formal auf § 284 StGB abgestellt, ohne sich näher mit den bisher ergangenen unterschiedlichen Urteilen auseinanderzusetzen. Ein solches Handeln verletzte das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

“ (…) Die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes setzt ein besonderes öffentliches Interesse voraus, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (…).

Ein solches besonderes öffentliches Interesse ist zwar in der Regel bei der Untersagung strafbaren Verhaltens durch Verwaltungsakt gegeben, da an der Unterbindung der Begehung oder Fortsetzung von Straftaten ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Dies setzt jedoch voraus, dass die Strafbarkeit des in Rede stehenden Verhaltens im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann.

Je unsicherer aber eine Strafbarkeit prognostiziert werden kann, desto weniger ist allein der Verweis darauf geeignet, das öffentliche Vollzugsinteresse zu begründen. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Anwendbarkeit der Strafnorm selbst, zum Beispiel aus europarechtlichen Gründen, zweifelhaft ist. In einer solchen Situation bedarf es nicht zuletzt wegen der materiell grundrechtsgewährleistenden Funktion effektiven Rechtsschutzes der Benennung von über die Strafbarkeit hinaus gehender konkreter Gefahren für das Allgemeinwohl.“

Auf den konkreten Fall bezogen, bedeute dies – so die Richter – folgendes:

„Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Die Verwaltungsgerichte haben ihre Auffassung von der gemeinschaftsrechtlichen Vereinbarkeit des § 284 StGB in der Art einer Hauptsacheentscheidung begründet, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass es – wie dargelegt – im vorliegenden Eilverfahren bei der Feststellung eines besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses darüber hinaus auch darauf ankommt, mit welcher Gewissheit die Strafbarkeit festgesetellt werden kann.

Da die Verwaltungsgerichte diese Anforderung nicht erkannt haben, können ihre Ausführungen zur summarischen Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Vereinbarkeit des § 284 StGB auch nicht in dem Sinn verstanden werden, dass die Vereinbarkeit als zweifelsfrei angesehen wird.

Angesichts der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Gambelli“ (…) und ihrer Rezeption durch Rechtsprechung und Literatur (…) könnten erhebliche Zweifel an der gemeinschaftsrechtlichen Vereinbarkeit des § 284 StGB auch nicht ohne Verstoß gegen das Willkürverbot ausgeschlossen werden.

Die Entscheidung des EuGH betrifft nicht nur die europarechtliche Zulässigkeit mitgliedstaatlicher Glücksspielmonopole, sondern stellt auch die Frage, ob deren Strafbewehrung am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts scheitert.

Die Vorlage zum Europäischen Gerichtshof in der Sache „Gambelli“ erfolgte nämlich in einem Strafverfahren, und die Prüfung der Vereinbarkeit mit gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten bezieht sich ausdrücklich auf Vorschriften, nach denen in Italien unter anderem die Vermittlung von Wetten ohne die nach anderen Rechtsvorschriften erforderliche Genehmigung unter Strafe gestellt ist (…). Die Beschränkung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie die Anforderungen einer möglichen Rechtfertigung werden gerade mit Blick auf mitgliedstaatliche Strafvorschriften gewürdigt und den nationalen Gerichten die Prüfung auferlegt, ob eine Bestrafung einer Person, die Wetten an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Buchmacher vermittelt, eine unverhältnismäßige Sanktion darstellt (…).

Angesichts dieser Ausführungen des EuGH könnte im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren die Konformität der deutschen Rechtslage mit Gemeinschaftsrecht kaum ohne eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof festgestellt werden. Sie kann daher auch nicht bei der Bewertung des besonderen Vollzugsinteresses im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren als ausreichend sicher behandelt werden.

(…) Unter diesen Umständen bedarf die Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung der Begründung mit konkreten Gefahren für das Gemeinwohl. Im Rahmen dieser Prüfung ist für Verwaltung und Verwaltungsgerichte die Kontrolle der Vermittlung von Sportwetten zur Vermeidung von konkreten Gefahren auch unter Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben möglich (…).“

Inhaltlich haben die BVerfG-Richter zur Frage der rechtlichen Zulässigkeit des bestehenden Sportwetten-Monopols noch keine Stellung genommen. Sie haben jedoch der in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung vielfach geübten Praxis, sich einfach formal auf § 284 StGB zu berufen, eine klare Absage erteilt.