Der BGH legt Fragen zur Auslegung der Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Sportwetten vor – Sind diese Fragen entscheidungserheblich?

Ein Artikel von Rechtsanwalt Rolf Karpenstein

Der I Senat beim BGH fragt den EuGh mit Beschluss vom 24.1.2013, ob die unterschiedliche Regulierung von Sportwetten in Schleswig Holstein und den 15 anderen Bundesländern der Rechtfertigung des staatlichen Eingriffs in die Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit) entgegensteht, die in der wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklage von Westlotto gegen einen privaten Wettanbieter mit Lizenz im EU-Ausland liegt (Fragen 1 und 2). Die Fragen 3 und 4 betreffen nicht die am Tag des Beschlusses entscheidungserhebliche Rechtslage, sondern den Fall, dass Schleswig Holstein trotz der Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV und trotz der Ausführlichen Stellungnahme der Kommission im Notifizierungsverfahren 2012/520/D dem Glücksspieländerungsstaatsvertrag der übrigen 15 Bundesländer beitritt.

Zwar ist jede deutsche Vorlage nach Luxemburg in dem brisanten Bereich der beim Staat monopolisierten Lotterien, Glücksspiele und Sportwetten zu begrüßen. Auch lässt das Novum, Vorlagefragen zu einer Gesetzeslage zu stellen, die im Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses nicht entscheidungserheblich ist, interessante Stellungnahmen der Beteiligten vor dem EuGh erwarten.

Allerdings kann die Beantwortung der formulierten Vorlagefragen eine unionsrechtlich abgesicherte Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nur zu Gunsten des beklagten privaten Anbieters herbeiführen, nicht aber zu Gunsten des dauerhaft in Artikel 56 AEUV eingreifenden Staates, hier vertreten durch Westlotto. Dies dürfte kaum im Sinne des Vorlagegerichtes sein, denn der BGH beabsichtigt offensichtlich, die Revision zurückzuweisen, wenn der EuGh seine Vorlagefragen negativ beantwortet – sonst hätte er der Revision ohne die Vorlage stattgegeben und die fehlende Rechtfertigung des wettbewerbsrechtlichen Eingriffs z. B. darauf gestützt, dass eine sportwettenrechtliche deutsche Erlaubnis außerhalb von Schleswig Holstein zur Zeit nicht erlangt werden kann (vgl. OLG Naumburg, 9 U 73/10).

Der BGH kann die unionsrechtliche Rechtfertigung des staatlichen Dauereingriffs von Westlotto nicht ohne zusätzliche tatsächliche Feststellungen zur staatlichen Praxis im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten beurteilen. Das liegt an der Besonderheit, dass staatliche Eingriffe im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten für ihre Rechtfertigung nicht nur einer systematischen und kohärenten Gesetzeslage bedürfen, sondern auch einer staatlichen Praxis, die ebenso systematisch und kohärent allein auf die Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet ist und nicht in Wahrheit andere, namentlich fiskalische Ziele verfolgt.

Über die Systematik und Kohärenz der bundesweiten staatlichen Praxis im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten kann der BGH in dem zukünftigen Zeitpunkt seiner Entscheidung über die Rechtfertigung des Eingriffs von Westlotto nichts wissen. Die ZPO bindet ihn an die Feststellungen der Vorinstanzen. Und diese Feststellungen können denknotwendig nicht über den 3. September 2010, dem Tag der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, hinausgehen.

Der BGH hat keinen staatlichen Eingriff auf seine Rechtfertigung zu beurteilen, der im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung abgeschlossen war, sondern einen die Dienstleistungsfreiheit negierenden staatlichen Eingriff mit Dauerwirkung. Für die unionsrechtliche Rechtfertigung eines staatlichen Dauereingriffs im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten muss nicht nur die nationale Rechtslage dauerhaft, sondern auch die staatliche Praxis im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten dauerhaft systematisch und kohärent allein auf die Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet sein; die staatliche Praxis darf insbesondere nicht in Wirklichkeit fiskalische Ziele verfolgen (EuGh, Gambelli Rn. 62 ff.; Liga Portugesa, Rn. 59). Die auf die staatliche Praxis bezogene Kohärenzprüfung muss zudem nicht nur Glücksspielsektor-übergreifend, sondern auch Vertriebsweg-übergreifend vorgenommen werden (EuGh, Zeturf; Reichert, EuZW 2011, S. 679).

Nach der Gambelli-Entscheidung haben die nationalen Gerichte (und die Behörden und der Gesetzgeber) zu prüfen, ob eine staatliche Beschränkung bei Sportwetten angesichts ihrer „konkreten Anwendungsmodalitäten tatsächlich den Zielen Rechnung trägt, die sie rechtfertigen könnten und ob die mit ihr auferlegten Beschränkungen nicht außer Verhältnis zu diesen Zielen stehen.“

Mit Urteil vom 24. Januar 2013 hat der EuGh in den verbundenen Rechtssachen C-186/11 und C-209/11 diesen Prüfungsauftrag erneut hervorgehoben und betont, dass ein staatlicher Eingriff in Artikel 56 AEUV nicht zu rechtfertigen ist, „wenn … diese Regelung dem Anliegen, die Gelegenheiten zum Spiel kohärent und wirksam zu verringern und die damit zusammenhängenden Tätigkeiten zu beschränken, nicht wirklich gerecht wird.“ Der EuGh verlangt also, dass neben der Gesetzeslage auch und insbesondere die Wirklichkeit kohärent und wirksam die Ziele verfolgt, die die staatliche Beschränkung rechtfertigen sollen.

Diesen unionsrechtlichen Prüfungsauftrag zu den „wirklichen“ Umständen im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten kann der BGH nicht erfüllen. Er darf den Sachverhalt bezogen auf den Zeitpunkt seiner erst in einigen Jahren anstehenden Entscheidung über die Revision nicht selbst ermitteln und neuer Sachvortrag vor dem BGH ist nach der ZPO unzulässig. Eventuelle frühere Feststellungen der Vorinstanzen zur staatlichen Praxis sind ohne Bedeutung; sie reichen nicht bis über den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung vom 3. September 2010 hinaus.

Der BGH verfügt mithin für den Zeitraum nach dem 3. Oktober 2010 über keinerlei Feststellungen, die eine systematische und kohärente staatliche Glücksspielpraxis als Grundlage für die Rechtfertigung des Eingriffs von Westlotto belegen. Für tatsächliche rechtfertigende Umstände aus der Praxis der staatlichen Anbieter ist indessen der Staat darlegungs- und beweisbelastet, denn er missachtet die an ihn gerichtete höherrangige Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV. Fehlende tatsächliche Feststellungen zur Annahme der Rechtfertigung des Eingriffs gehen daher grundsätzlich zu Lasten von Westlotto.

Wie der BGH mit dieser unionsrechtlichen Rechtslage umgehen wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls kann der BGH die Revision willkürfrei nicht zurückweisen und den dauerhaften Eingriff in die Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV als gerechtfertigt ansehen. Dazu fehlen ihm schlicht tatsächliche Feststellungen zur staatlichen Praxis bezogen auf den Zeitraum nach dem 3. Oktober 2010.

Außerdem darf dem beklagten privaten Anbieter nicht der Nachweis abgeschnitten werden, dass die staatlichen Anbieter – jedenfalls nach der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung – ihre Praxis im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten fiskalisch auf die Einnahmenmaximierung ausrichten und z. B. Lotto und andere Glücksspiele über das Internet und über Handy vertreiben sowie massiv im Internet und allen anderen Medien werben und damit einer Rechtfertigung des wettbewerbsrechtlichen Eingriffs die Grundlage nehmen. Würde der BGH derartigen neuen Sachvortrag aus formalen zivilprozessualen Gründen ausschließen, würde er seinen unionsrechtlichen Prüfungsauftrag missachten und einen ungerechtfertigten staatlichen Eingriff billigend in Kauf nehmen.

Sollte der EuGh die Vorlagefragen im Sinne von Westlotto entscheiden, müsste der BGH außerdem die tatsächliche Frage prüfen, ob Westlotto mit der Beschränkung des Internetvertriebs nicht in Wahrheit fiskalische Ziele anstrebt (EuGh, Zenatti, Rn. 35 f., Gambelli, Rn. 62; BVerwG 8 C 5.10, Rn. 35).

Diese fiskalische Ausrichtung, die der Anwendung eines Internetvertriebsverbotes auf private Anbieter entgegensteht, liegt heute und in Zukunft mehr denn je auf der Hand, nachdem der GlüÄndStV für die Monopolträger die meisten Vermarktungsrestriktionen des GlüStV aufgehoben hat, die das Monopol hatten rechtfertigen sollen. Außerdem vertreiben die Lotteriegesellschaften zur Einnahmenmaximierung den Eurojackpot, 6 aus 49, Keno und die Glücksspirale online und über 27.000 gewerbliche Annahmestellen und nicht, wie es sich zur Bekämpfung von Suchtgefahren anbieten würde, in Suchtberatungsstellen. Überdies werben sie massiv in allen Medien, insbesondere auch im Internet für staatliches Glücksspiel und Sportwetten und zeigen damit, dass es ihnen in erster Linie um fiskalische Ziele geht (so auch BayVGH, Urt. v. 26.6.2012, 10 BV 09.2259).

Wie der EuGH seit Zenatti (Rn. 36) und ihm folgend das BVerwG (8 C 5.10, Rn. 35) klargestellt haben, ist die Anwendung einer staatlichen Beschränkung wie eines Internetvertriebsverbotes nicht zu rechtfertigen, wenn Westlotto mit der Beschränkung in Wirklichkeit finanzielle Ziele anstrebt. Die Erkenntnis einer solchen unlauteren fiskalischen Ausrichtung liegt für die Revisionsinstanz indessen auch ohne weiteren Tatsachenvortrag nahe. Denn Westlotto verlangt neben Unterlassung auch Schadensersatz und behauptet selbst, Sportwetten nicht zur Daseinsvorsorge, sondern im Wettbewerb anzubieten. Wer im Wettbewerb tätig ist und das Wettbewerbsrecht zur Ausschaltung seiner Wettbewerber und zur Erlangung von Schadensersatz in Anspruch nimmt, tut dies in erster Linie zur Erzielung von Einnahmen und nicht zur Bekämpfung von Suchtgefahren. Ein Lotterieanbieter, der systematisch und kohärent allein die Suchtgefahr bekämpft, kann durch Wettangebote eines privaten Anbieters nämlich keinen finanziellen Schaden durch Umsatzeinbussen haben, weil es ihm aus Gründen der Suchtbekämpfung auf möglichst geringen Umsatz ankommt.

Überdies besteht nach den Feststellungen des BVerfG im Oddset-Urteil sowie unionsrechtlich die tatsächliche Vermutung, dass der Staat Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten keineswegs altruistisch zur Daseinsvorsorge und zur Bekämpfung on Suchtgefahren im Wettbewerb anbietet, sondern zur Erzielung von Einnahmen (EuGh, Zeturf, Rn. 59 – 63 ff.). Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit kann Westlotto daher nicht rechtfertigen, ohne die tatsächliche Vermutung seiner fiskalischen Ausrichtung zu widerlegen. Dies kann in der Revisionsinstanz nicht gelingen, weil neuer Sachvortrag unzulässig ist.

Gegenteilige tatsächliche Erkenntnisse zu der fiskalischen Ausrichtung von Westlotto kann der BGH schon deshalb nicht aus Feststellungen der Tatsacheninstanz entnehmen, weil sich diese auf die Zeit bis September 2010 beschränken. Allenfalls könnte der BGH zurückverweisen und dem darlegungs- und beweisbelasteten Staat Gelegenheit geben, die tatsächliche Vermutung zu widerlegen, dass Westlotto trotz des auf das Wettbewerbsrecht gestützten Eingriffs nicht fiskalisch im Bereich der Sportwetten, Lotterien oder anderer Glücksspiele tätig ist. Selbst wenn dieser Nachweis in der Tatsacheninstanz gelingen würde – was kaum denkbar ist – könnte der BGH jedoch eine Rechtfertigung des staatlichen Dauereingriffs nicht für den Zeitraum nach der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz annehmen. Denn die entscheidungserheblichen Tatsachen können sich danach geändert haben und einer unionsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs entgegenstehen.

Vor diesem unionsrechtlichen Hintergrund erweisen sich revisionsrechtliche Entscheidungen, die staatliche Eingriffe mit Dauerwirkung im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten bestätigen, als unhaltbar. Die Revisionsinstanz kann aufgrund fehlender tatsächlicher Feststellungen zur der staatlichen Praxis für die Zeit nach der jeweils letzten mündlichen Tatsachenverhandlung denknotwendig nicht zu der Überzeugung gelangt sein, dass die staatlichen Lotteriegesellschaften und ihre Gesellschafter, die Bundesländer, weder fiskalische Absichten verfolgen noch unter Verletzung des Kohärenzgebotes die Verbraucher dazu anreizen und ermuntern, an Lotterien, Glücksspielen oder Wetten teilzunehmen, die über gewerbliche Annahmestellen oder das Internet vertrieben werden, damit der Staatskasse daraus Einnahmen zufließen.

Die unionsrechtliche Konsequenz, dass eine deutsche Revisionsinstanz aufgrund der Beschränkungen der ZPO einen staatlichen Eingriff mit Dauerwirkung im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten niemals als gerechtfertigt bestätigen kann, darf nicht erstaunen. Diese Konsequenz ist ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, dass auch der Gesetzgeber und die Exekutive beschränkende Maßnahmen mit Dauerwirkung permanent am Maßstab der Rechtfertigungsanforderungen des EuGh überprüfen müss(t)en. Die Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV gilt seit 1970 unmittelbar und permanent und nicht lediglich im Zeitpunkt des Erlasses eines beschränkenden Gesetzes, eines beschränkenden Verwaltungsaktes oder im Zeitpunkt der Einreichung einer Unterlassungsklage.

Die höherrangige Verbotsnorm aus Artikel 56 AEUV verbietet dann auch den Gerichten permanent, einen staatlichen Eingriff mit Dauerwirkung zu bestätigen, wenn nicht die Überzeugung besteht, dass permanent – also auch in Zukunft – alle Rechtfertigungsanforderungen erfüllt sind. Könnte die Revisionsinstanz einen staatlichen Eingriff mit Dauerwirkung rechtskräftig und damit auf Dauer bestätigen, obwohl sie wegen der Beschränkungen der ZPO gar nicht prüfen kann, ob die einnahmenorientierte staatliche Praxis bei Lotterien, Glücksspielen oder Sportwetten ausnahmsweise systematisch und kohärent allein auf die Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet ist, würde dies die volle Wirksamkeit der Verbotsnorm des Artikel 56 AEUV ebenso auf den Kopf stellen, wie die Rechtsprechung des EuGh zur Rechtfertigung von Ausschließlichkeitsrechten im Bereich der Sportwetten.

Fazit: Der BGH hat Vorlagefragen gestellt, die nur die eine Seite der Rechtfertigung des staatlichen Eingriffs, nämlich die Gesetzeslage behandeln. Um auch die andere Seite, die staatliche Praxis, abzuhandeln, müsste der BGH, sollte der EuGh im Sinne von Westlotto entscheiden, neuen Tatsachenvortrag zulassen oder die Amtsermittlung einführen, was er kaum tun wird.

Die Zurückverweisung zur Ermittlung der dann aktuellen staatlichen Praxis hinsichtlich der Rechtfertigung kann das Problem nicht lösen. Denn selbst wenn die Vorinstanzen die notwendigen tatsächlichen Umstände ermitteln, könnte der BGH die Rechtfertigung des Eingriffs revisionsrechtlich nur bezogen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsacheninstanz beurteilen, nicht aber bezogen auf den Zeitpunkt seiner eigenen Entscheidung und schon gar nicht für die Zukunft.

Die Schlussfolgerung, dass eine Bestätigung eines staatlichen Eingriffs mit Dauerwirkung im Bereich der Lotterien, Glücksspiele oder Sportwetten durch die Revisionsinstanz nicht möglich ist, ist durchaus sachgerecht. Denn die Revisionsinstanz, deren in Artikel 56 AEUV eingreifende Entscheidung nicht anfechtbar ist, kann den Prüfungsauftrag des EuGh für die Rechtfertigung des Eingriffs nicht erfüllen. Sie kann nicht prüfen, ob im Zeitpunkt ihres staatlichen Eingriffs in Artikel 56 AEUV, dem dann Dauerwirkung zukommt, alle Anforderungen an die Rechtfertigung des Eingriffs auf der tatsächlichen Ebene vorliegen. Ohne diese Prüfung muss der höherrangigen Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV zwingend der Vorrang vor staatlichen Interessen eingeräumt werden.

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