Detailed Opinion der Europäischen Kommission vom 06.12.2012 
zum schleswig-holsteinischen Gesetzentwurf

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Sozietät Redeker Sellner Dahs
Willy-Brandt-Allee 11
D - 53113 Bonn
Die Europäische Kommission hat in den schleswig-holsteinischen Notifizierungsverfahren zum Beitritt zum 1. Glücksspieländerungsstaatsvertrag (Notifizierung in 2012/519/D und 2012/520/D) eine unerwartet ausführliche und ebenso unerwartet eindeutig ablehnende ausführliche Stellungnahme abgegeben.

Das Schreiben führt zur Verlängerung der Stillhaltefrist bis zum 07.01.2013. Es gibt überdies Veranlassung, den Betritt grundsätzlich zu überdenken. Denn die Stellungnahme gelangt in aller Deutlichkeit zu der Schlussfolgerung, dass die Verabschiedung eine Unanwendbarkeit der künftig in Schleswig-Holstein gültigen Regelungen zur Folge hätte. Dies berührt die Wirksamkeit des Beitrittsaktes, durch den die Wirkungen für Schleswig-Holstein ausgelöst werden ebenso wie sämtliche in Schleswig-Holstein auf das neue Recht gestützten Vollzugsakte. Das Land würde sich also mit der Beschlussfassung zu dem Gesetz einer derzeit bestehenden, nach dem Votum der Kommission unionsrechtkonformen und vollzugsfähigen Regelung begeben, um einen europarechtswidrigen, allen Zwecken der bisherigen und künftigen Regulierung widersprechenden rechtlichen Schwebezustand herzustellen.

Der bloße Umstand, dass die Kommission unter den tausenden von Notifizierungen die jährlich vorgenommen werden, in dieser Sache, die allein das Land Schleswig-Holstein betrifft, eine Stellungnahme dieses Umfangs abgibt, belegt die Bedeutung, die seitens der Kommission dem Vorgang beigemessen wird. Allein darin kann ein Warnsignal gesehen werden.

Die Aussagen der Stellungnahme lassen sich wie folgt zusammenfassen, wobei der Gliederung des Kommissionsschreibens gefolgt werden soll:

I. Ausführliche Stellungnahme der Europäische Kommission

Die ausführliche Stellungnahme der Europäische Kommission zwingt das Land Schleswig-Holstein, gem. Artikel 9 Abs. 2 S. 3 die Kommission über Maßnahmen zu unterrichten, die sie aufgrund der ausführlichen Stellungnahme zu ergreifen beabsichtigt. Die Kommission hat dann ihrerseits noch einmal Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Gelingt es nicht, die Kommission zu überzeugen, stellt dies die erste Stufe zu einem Vertragsverletzungsverfahren dar. Die Kommission weist auf diese Rechtsfolge auf S. 7 in ihrer Stellungnahme ausdrücklich hin. Sie stellt ein Mahnschreiben gem. Artikel 258 AEUV für den Fall in Aussicht, dass der Regelungsentwurf ohne Berücksichtigung ihrer Kritik in Kraft gesetzt wird.

Dieser Hinweis ist umso bedeutsamer, als die Kritik nicht einzelne Regelungen, sondern den grundsätzlichen Ansatz betrifft. Die Kommission beanstandet nämlich im Wesentlichen dreierlei:

  • Sie vermisst die Angabe von Gründen seitens des Landes Schleswig-Holstein („die deutschen Behörden“), die es rechtfertigen könnten, dass „weniger als ein Jahr nach Inkrafttreten des derzeitigen Systems [mit dem ein nach der seinerzeitigen Entwurfsbegründung vom 01.01.2012 im Ordnungsrahmen für das Glücksspiel in Schleswig-Holstein geschaffen werden sollte, der den mit dem Glücksspiel begründeten Gefahren angemessen Rechnung tragen sollte], ein restriktiverer Ordnungsrahmen als bisher für erforderlich erachtet wird, um im Wesentlichen gleichlautende Zielsetzung zu erreichen. Die Kommission weist ausdrücklich darauf hin, dass bei der Notifizierung des bisherigen Glücksspielgesetztes Schleswig-Holstein die deutschen Behörden „offensichtlich keine besonderen Gefährdungen im Zusammenhang mit der Einrichtung eines Konzessionierungssystems, das keine Beschränkung der Zahl der Konzessionen vorsieht, ein breites Spektrum von Wettarten ermöglicht und weniger restriktive Regeln festlegt“ gesehen haben (Kommissionsschreiben S. 5 f.). Sie vermisst Informationen dazu, die ein Erfordernis derart erheblicher Gesetzesänderungen nicht einmal ein Jahr nach der Genehmigung klären würden.
  • Die Europäische Kommission vermisst einen Nachweis der Verhältnismäßigkeit der vorgesehenen Beschränkungen, die aus dem Beitritt zum 1. Glücksspieländerungsstaatsvertrag erwachsen und weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Untersuchung ihrer Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit hin (EuGH, C-8/02, Leichtle, Rn. 45).
  • Die Kommission beanstandet im Hinblick auf die – für das Notifizierungsverfahren für online-spezifische Regelungen allein bedeutsamen – Online-Glücksspieldienste die Eignung der Deckelung der Gesamtzahl der Konzessionen und fordert die deutschen Behörden insoweit auf, eine Untersuchung vorzulegen, die ihre Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit belegt. Sie stützt ihre Bedenken namentlich auf die im Verhältnis zur Größe des Marktes geringe Anzahl von Konzessionsnehmern und die strengen Bedingungen bei der Konzessionsverteilung, die „es in der Summe sehr schwierig erscheinen lassen, ein wirtschaftlich tragfähiges und in der Folge stabiles und attraktives Online-Angebot für Sportwetten bereit zu stellen“ (Kommissionsschreiben S. 5). Die Kommission beanstandet die fehlende Kohärenz des Nebeneinanders zweier unterschiedlicher Regelungssysteme des Rechts des 1. Glücksspieländerungsstaatsvertrages einerseits und der bestehenden schleswig-holsteinischen Genehmigungsinhaber andererseits (Kommissionsschreiben S. 6).
  • Die Kommission leitet aus dem Fortbestand der bestehenden Genehmigungen das fehlende Erfordernis der restriktiveren Regeln des 1. Glücksspieländerungsstaatsvertrages zum Erreichen der Ziele des öffentlichen Interesses her (Kommissionsschreiben S. 6).

Das Land Schleswig-Holstein hat Gelegenheit, sich zu diesen Vorhaltungen zu äußern. Es ist allerdings nicht ersichtlich, wie das Land die Bedenken bei Aufrechterhaltung der bisherigen vorgeschlagenen Gesetzeslage ausräumen will.

II. Bemerkungen der Europäische Kommission

  • Die Kommission legt den Finger in die Wunde der unterschiedlichen Regulierungsmodelle bei Online-Casino- und Pokerspielen (Ziff. 2.1, S. 7 f.). Sie stellt die Behauptung der Bundesländer zu dem Glücksspielstaatsvertrag, dass im Bereich von Online-Casino- und Pokerspielen die Ziele des GlüStV nicht durch eine Politik der Kanalisierung erreicht werden könnten, sondern Verbote nach § 9 erforderlich seien, dem schleswig-holsteinischen Regulierungsmodell gegenüber, bei dem die „deutschen Behörden keine besonderen Gefährdungen im Zusammenhang mit der geregelten Öffnung des Marktes für Online-Casino-Spiele und Pokerspiele zu erkennen“ vermocht hätten. Sie betont in diesem Zusammenhang das Nachweiserfordernis des Mitgliedsstaates zur Rechtfertigung von Verboten und Beschränkungen (Kommissionsschreiben S. 8).
  • Zum Konzessionsverfahren und dessen Teilnahmebedingen beanstandet die Kommission die fehlende Bestimmtheit der Anforderungen an das Sozial- und Wirtschaftlichkeitskonzept und der Reihenfolge der Auswahlkriterien, die erst im Rahmen der Ausschreibung spezifiziert würden. Sie äußert ferner Zweifel daran, dass das Verfahren zur Erteilung der Konzessionen transparent und nicht diskriminierend organisiert ist. Bedenken hat sie wohl wegen der unterschiedlichen Verhältnisse bei etablierten und neuen Bewerbern (Kommissionsschreiben S. 9).
  • Was die Werbung anbetrifft, bezweifelt die Kommission im Hinblick auf die bisherige schleswig-holsteinische Regelung die Notwendigkeit eines Erlaubnisvorbehaltes und vermisst Regelungen, die insoweit eine „objektive, nicht diskriminierende und [nach] im Voraus bekannten Kriterien [erfolgende] […] Ermessensausübung“ gewährleisten (Kommissionsschreiben S. 9).
  • Schließlich erinnert die Kommission an Notifizierungspflichten bei der Umsetzung des Glücksspielstaatsvertrages durch Erlass von Verwaltungsvorschriften (Kommissionsschreiben S. 10). Namentlich mit Blick auf das laufende Konzessionsvergabeverfahren der übrigen Länder ist dies bedeutsam, weil die Ausschreibungsbedingungen auf der zweiten Stufe notifizierungspflichtige Regelungen enthalten, eine Notifizierung insoweit aber nicht stattgefunden hat. Daraus erwachsen Zweifel an der Durchführung des bisherigen Verfahrens. Ohne dass diese von der Kommission ausdrücklich angesprochen werden, ist auch dies bei der Entscheidung über den Beitritt zu berücksichtigen.

Insgesamt ist dem Schreiben danach unmissverständlich zu entnehmen, dass die Kommission nach den ihr zur Verfügung stehenden Informationen die mit dem Beitritt in Kraft tretenden Regelungen des Glücksspielstaatsvertrages als unionsrechtswidrig und unanwendbar ansieht, wenn nicht hinsichtlich der erwähnten Gesichtspunkte seitens der Administration Erläuterungen angeführt werden können, die die bestehenden Bedenken ausräumen.