Europarechtliche Kohärenzanforderungen im Glücksspielrecht auf dem Prüfstand des Bundesverwaltungsgerichts

Rechtsanwalt Dr. Manfred Hecker
Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht
CBH - Rechtsanwälte
Bismarckstr. 11-13
D - 50672 Köln
Das Bundesverwaltungsgericht gibt der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29.09.2011 (Az. OVG 4 A 17/08) durch Beschluss vom 16.02.2012 statt und lässt die Revision gegen die vorgenannte Entscheidung zu – Az.: BVerwG 8 B 91.11 (8 C 10.12)

Grundlagen der vorinstanzlichen OVG-Entscheidung:

Mit Urteil vom 29.09.2011 hatte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen entschieden, dass der Untersagungsbescheid der beklagten Stadt M vom 18.04.2006 sowohl während der sog. „verfassungsgerichtlichen Interimsfrist“ bis zum 31.12.2007 als auch in der Zeit nach Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages am 01.01.2008 rechtswidrig gewesen sei. Als tragende Gründe hierfür sah das Oberverwaltungsgericht einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des staatlichen Sportwettenmonopols insbesondere aus dem Gesichtspunkt mangelnder europarechtlicher Kohärenz. Die Monopolregelungen seien nämlich wegen der Werbepraxis der Monopolträger nicht geeignet, die Verwirklichung der mit ihnen verfolgten legitimen Ziele zu erreichen. In einem auf den Spielerschutz und die Suchtprävention ausgerichteten Glücksspielmonopol beschränke sich das Maß zulässiger Werbung auf das, was erforderlich sei, um die Verbraucher zu den genehmigten Spielnetzwerken hinzulenken. Diesen Anforderungen genüge die Werbepraxis der Monopolträger nicht.

Zur Beurteilung der unionsrechtlichen Kohärenz sei nicht allein die Werbepraxis in Nordrhein-Westfalen entscheidend. Vielmehr sei die ganze Bundesrepublik und damit die Werbung auch der Monopolträger in anderen Bundesländern in den Blick zu nehmen, meint das OVG Münster. Ferner käme es auch nicht nur auf die Werbung für staatliche Sportwetten an. Es sei vielmehr die Werbepraxis der staatlichen Monopolträger insgesamt auch in Bezug auf die anderen von ihnen angebotenen Glücksspiele zu bewerten. Vor diesem Hintergrund prüft das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen sowohl die Werbung von Westlotto als auch der staatlichen Glücksspielanbieter anderer Bundesländer und kommt zu dem Ergebnis, dass die Inhalte dieser Werbeaktivitäten unionsrechtswidrig seien.

Darüber hinaus beanstandet das OVG Münster, es fehle an einer systematischen und kohärenten, am Ziel der Bekämpfung von Suchtgefahren und Spielerschutz orientierten Gesamtregelung in anderen Glücksspielbereichen. Das Kohärenzkriterium werde nicht erst bei einem „krassen“ Missverhältnis der Glücksspielpolitik im Bereich der Sportwetten einerseits und in den Bereichen der Spielbanken und des Automatenspiels andererseits verfehlt.

Die gesetzlichen Regelungen ließen einem Beitrag zur systematischen und kohärenten Begrenzung der Spiel- und Wettaktivitäten vermissen, wenn die legitimen Zwecke des Sportwettenmonopols in anderen Glücksspielbereichen normativ oder durch die Praxis der Rechtsanwendung konterkariert werden. Ein solcher Widerspruch zu den Restriktionen des Sportwettenmonopols läge in den gewerberechtlichen Regelungen des Glücksspiels bei Spielautomaten. Hier sei eine Expansion festzustellen, welche die auf die Bekämpfung von Glücksspielsucht und den Spielerschutz zielende Gesamtkohärenz der Regelungen durchgreifend in Frage stelle.

Außerordentlich umfassend behandelt das Oberverwaltungsgericht die verschiedenen suchtrelevanten Merkmale des Automatenspiels und deren expansive Entwicklung. Schließlich kommt es zu der Feststellung, diese Bestandsaufnahme zeige, „dass die Regelungen für das gewerbliche Automatenspiel und ihre konkreten Anwendungsmodalitäten nicht dem Erfordernis einer systematischen und kohärenten Begrenzung der Glücksspielaktivitäten zum Zweck der Suchtprävention und des Spieler- und Jugendschutzes genügen“. Vor diesem Hintergrund seien „weitere Ermittlungen dazu, ob durch das Monopol von Sportwetten abgehaltene Spieler zu den Automatenspielen abwandern, wie sie die Beklagte im Rahmen einer ‚Folgenabschätzung‘ für erforderlich hält, insoweit nicht notwendig“.

Zum Beschluss des BVerwG:

Diese Rechtsansichten des OVG NW stellt das Bundesverwaltungsgericht jetzt mit der positiven Beschlussfassung über die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten in Frage und mit der Zulassung der Revision auf den Prüfstand des höchsten Verwaltungsgerichts. Den durch die Beklagte Stadt erhobenen Einwendungen gegen die Nichtzulassung der Revision durch das OVG NW komme grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu.

In der Begründung des Beschlusses betont das BVerwG, es seien insbesondere folgende Fragen klärungsbedürftig:

  1. „ob die Prüfung der tatsächlichen Ausgestaltung des staatlichen Sportwettenmonopols hinsichtlich der Werbung am Maßstab des unionsrechtlichen Kohärenzerfordernisses bundeseinheitlich oder wegen der vom Grundgesetz gewährleisteten Eigenständigkeit der Länder (Art. 20 Abs. 1, Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG) länderspezifisch zu erfolgen hat und“
  2. „ob die Vereinbarkeit des staatlichen Sportwettenmonopols mit dem unionsrechtlichen Kohärenzerfordernis von einer Folgenabschätzung im Sinne einer Wanderbewegung hin zu liberaler geregelten anderen Glücksspielbereichen abhängt.“

Die Frage des Erfordernisses einer „Folgenabschätzung“ aufgrund der Urteile des Europäischen Gerichtshofs „Carmen Media“ und „Markus Stoß“ wurde ausführlich in einem Beitrag von Hecker in der DVBl 2011, S. 1130 ff. behandelt.

Es bleibt nunmehr abzuwarten, wie das Bundesverwaltungsgericht die beiden oben aufgeworfenen Fragen im Revisionsverfahren beantworten wird.

Das Ergebnis des Revisionsverfahrens wird auch ausschlaggebende Bedeutung auf die Beurteilung der europarechtlichen Auswirkungen des von Schleswig-Holstein eingeschlagenen Sonderweges einer stärkeren Liberalisierung des Glücksspiels zeitigen. Insbesondere mit der Feststellung des Erfordernisses einer dritten Prüfungsstufe im Sinne der Folgenabschätzung dürfte nämlich auch die Diskussion um eine „territorial Inkohärenz“ des Glücksspieländerungsstaatsvertrages in den 15 Signatarländern entschärft sein. Für das Vorliegen einer territorialen Inkohärenz (sofern es eine solche europarechtlich überhaupt geben sollte) käme es nämlich nicht mehr allein auf das faktische Nebeneinander unterschiedlich strenger Regelungsregime verschiedener Glücksspiele an. Vielmehr wäre Voraussetzung für dessen Vorliegen die Feststellung, dass die liberale Glücksspielpolitik in Schleswig-Holstein auch die mit den Beschränkungen des Glücksspieländerungsstaatsvertrages verfolgten Ziele in den anderen 15 Bundesländern konterkariert.

Die Entscheidung im vorliegenden Revisionsverfahren hat daher ausschlaggebende Bedeutung für die Feststellung der europarechtlichen Kohärenz sowohl des noch geltenden Glücksspielstaatsvertrages als auch des zukünftig in Kraft tretenden Glücksspieländerungsstaatsvertrages.