Wie beantwortet die rechtswissenschaftliche Lehre die entscheidenden Fragen nach den Urteilen des EuGH vom 8. September 2010?

Eine Auswertung der Aufsätze
von
Streinz/Kruis: „Unionsrechtliche Vorgaben und mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume im Bereich des Glücksspielrechts“ (NJW 52/2010, 3745 ff.)
und
Heine: „Glücksspielstaatsvertrag ade? – Zur Bedeutung der jüngsten EuGH-Rechtsprechung“ (NJW-aktuell 41/2010, 16 ff.)
durch
Dr. Stefan Bolay, Hambach & Hambach Rechtsanwälte

1. Binden die EuGH – Urteile die nationalen Gerichte mit der Folge, dass diese die Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Glücksspielmonopols feststellen müssen?

Streinz/Kruis (NJW 2010, 3749):

„Der EuGH hat im Urteil Carmen Media entschieden, dass das durch den GlüStV errichtete staatliche Monopol für Lotterien und Sportwetten nicht den unionsrechtlichen Vorgaben an die kohärente und systematische Ausgestaltung entspricht. Diese Auslegung des Unionsrechts bindet die nationalen Gerichte und Behörden. Allerdings betont der EuGH ausdrücklich, dass die Unvereinbarkeit von den Feststellungen des vorlegenden VG Schleswig abhängt, wonach die deutschen Behörden in Bezug auf andere Arten von Glücksspiel, die nicht dem Monopol unterliegen, aber ein höheres Suchtpotential aufweisen, eine Politik der Angebotserweiterung mit dem Ziel der Einnahmenmaximierung betreiben. Dies entspricht der Arbeitsteilung zwischen EuGH und nationalen Gerichten im Verfahren nach Art. 267 AEUV, wonach ersterer das Unionsrecht auslegt, während die Ermittlung und Bewertung des Sachverhalts den letzteren obliegt (EuGH, NVwZ 2010, 1409 Rdnr. 62 – Stoß u.a.m.w. Nachw.). Theoretisch scheint daher ein Abweichen von der verbindlichen Entscheidung des EuGH möglich, soweit ein nationales Gericht in Bezug auf den Sachverhalt andere Feststellung trifft. Praktisch dürfte dies aber daran scheitern dass sich diese Feststellung maßgeblich auf die Lockerung der rechtlichen Bedingungen für den Betrieb von Automatenspielen stützt; dabei handelt es sich um ein leicht nachprüfbares Faktum, das keiner entgegen gesetzten Feststellung zugänglich sein dürfte.“

Heine (NJW-aktuell 41/2010, 16 u. 18):

„Im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV (ex-Art. 234 EGV) entscheidet der EuGH weder über die Gültigkeit oder die Auslegung mitgliedstaatlicher Rechtsnormen, noch stellt er deren Vereinbarkeit mit Unionsrecht fest (vgl. nur B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Auf., § 6 Rdnr. 11).Vielmehr gibt er (nur) ‚Hinweise’ auf der Grundlage des Sachverhalts, wie ihn die Gerichte vorgelegt haben, um diesen eine Auslegung des nationalen Rechts ohne Verstoß gegen Unionsrecht zu ermöglichen. Ein Verstoß führt dabei wegen des Vorrangs des Unionsrechts zwingend zur Nichtanwendbarkeit des nationalen Rechts. Diese Hinweise des EuGH sind bindend für Behörden, Gerichte und den Gesetzgeber. Die Hinweise in den Urteilen vom 8. 9. 2010 haben es in sich! (…)
Die Unionsrechtkonformität bemisst sich nach einer Gesamt-Kohärenz der Glücksspielpolitik in toto (Stoss Rdnr.83, CM Rdnrn.45, 68). Daher ist es auch bedeutungslos, dass das BVerfG den GlüStV als einen Teil dieser Glücksspielpolitik für verfassungsgemäß erklärt hat (NJW 2009, 139). Bei diesem Gesamtpaket des Glücksspielregimes liegt der (deutsche) Hase im (europäischen) Pfeffer. Nach dem unterbreiteten Sachverhalt sind es vor allem zwei Gründe, welche das unionsrechtliche Erfordernis der Kohärenz und Systematik der Begrenzungen der Grundfreiheiten bei einer Gesamtschau nicht erfüllen: 1. die intensiven Werbekampagnen der Inhaber der staatlichen Monopole zur Gewinnmaximierung (Stoss Rdnr. 100); 2. die Politik der Angebotsausweitung bei den liberalisierten Glücksspielen (zusätzliche Spielbanken, Lockerungen in der SpielV; vgl. CM Rdnr. 67). (…)
Dieser Punkt 1 der Rügen des EuGH ist gewiss unterschiedlichen Einschätzungen zugänglich, nicht aber Punkt 2: die gesetzlichen Lockerungen im Bereich der Automaten und Kasinos.“

Zusammenfassende und abschließende Antwort:

Ja.
Zwar haben die Entscheidungen des EuGH grundsätzlich keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung mit der Folge, dass alle nationalen Gerichte zwingend die Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Glücksspielmonopols feststellen müssen.
Jedoch führen sie in concreto zu einer faktischen Bindungswirkung, da der von den vorlegenden Gerichten vorgetragene Sachverhalt bezüglich der Lockerung der gewerberechtlichen Regelungen zu Geldspielgeräten und der Erhöhung der Anzahl der Spielbanken unwiderlegbar richtig ist. Daher kann ein nationales Gericht faktisch nicht zu einem anderen Ergebnis als der Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Glücksspielmonopols gelangen kann.

2. Bleiben die §§ 1 ff GlüStV und die §§ 284 ff StGB trotz der Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Glücksspielmonopols (teilweise) anwendbar?

Streinz/Kruis (NJW 2010, 3749 f.):

„Damit stellt sich nun die Frage, welche Normen des GlüStV von der Unanwendbarkeit betroffen sind. Da Art. 4 I GlüStV nur allgemein eine Erlaubnispflicht enthält und sich das staatliche Monopol erst aus Art. 10 II und V GlüStV, die diese Erlaubnis den von den Ländern kontrollierten juristischen Personen vorbehalten, ergibt, könnte man zu dem Ergebnis kommen, nur die Art. 10 II, V GlüStV seien unanwendbar, so dass private Wettanbieter eine Erlaubnis nach Art. 4 I GlüStV beantragen könnten. Dagegen spricht jedoch, dass der Gesetzgeber bisher private Veranstalter insgesamt vom Markt für Sportwetten und Lotterien ausschließen wollte. Hinzu kommt, dass die Unionsrechtswidrigkeit nicht dazu führt, dass der Gesetzgeber nun den Markt zwingend für private Wettbewerber öffnen muss. Es bleibt ihm weiterhin unbenommen, ein an den Vorgaben des Unionsrechts orientiertes staatliches Monopol zu errichten, auch wenn dies aufgrund der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern schwierig werden dürfte. Eine Anwendung von Art. 4 I GlüStV mit der Folge der Öffnung des Marktes für private Wirtschaftsteilnehmer dürfte deshalb seinem Willen nicht entsprechen. Demnach ist auch Art. 4 I GlüstV unanwendbar mit der Folge, dass bis zu einer unionsrechtskonformen Neuregelung keine Erlaubnispflicht besteht. Ebenfalls unanwendbar ist § 9 GlüStV als Rechtsgrundlage für Untersagungsverfügungen, da an das Fehlen einer Erlaubnis, die in unionsrechtswidriger Weise nicht erlangt werden konnte, keine Sanktionen geknüpft werden können, zumal derzeit wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts keine Erlaubnispflicht besteht. Dies darf auch nicht durch eine Heranziehung der subsidiären Vorschriften des Landesstrafrechts (z.B. Art. 7 II BayLStVG i.V.m. § 284 StGB) umgangen werden.
Nicht ganz so eindeutig kann die Frage der Unanwendbarkeit des Internetverbots nach § 4 IV GlüStV beantwortet werden. Zwar ist ein Verbot dieses Vertriebskanals für Glücksspiel wegen der damit verbundenen besonderen Gefahren grundsätzlich gerechtfertigt. Dass Fehlen einer kohärenten Gesamtkonzeption zur Bekämpfung der Spielsucht dürfte jedoch auch auf dieses Verbot mit der Folge der Unanwendbarkeit durchschlagen.
An die Stelle des GlüStV tritt insoweit die GewO mit dem Grundsatz der Gewerbefreiheit § 1 I. Da die §§ 33 c bis 33 g gem. § 33 h GewO auf Glücksspiele nicht anwendbar sind, trifft private Wirtschaftsteilnehmer bis zu einer unionsrechtskonformen Neuregelung nur die Anzeigepflicht nach § 14 GewO.“

Heine (NJW-aktuell 41/2010, 18):

„Im Hinblick auf die Strafverfolgung sind die Behörden derzeit gut beraten, die einschlägigen Strafverfahren nach § 170 II StPO einzustellen. Zwar findet sich in der Praxis immer wieder die Einschätzung, eine Unionswidrigkeit des verwaltungsrechtlichen Regelungen des Glücksspiel sei wegen der grundlegenden Wertentscheidung des Gesetzgebers (repressives Verbot) für die §§ 284 StGB bedeutungslos. Ganz ungeachtet der Frage, ob sich diese Werteinschätzung (generelle Unerwünschtheit und nur ausnahmsweise Zulassung) beim derzeitigen Stand der Dinge halten lässt, so ist jedenfalls eine funktionale Separierung von unionsrechtswidrigem verwaltungsrechtlichen Verbot und unionskonformem Straftatbestand schlicht ein Verstoß gegen das Unionsrecht (EuGH, NJW 2004,140 – Gambelli).“

Zusammenfassende und abschließende Antwort:

Nein.
Die Unionsrechtswidrigkeit führt zur Unanwendbarkeit der §§ 1 ff GlüStV mit der Folge, dass auch die verwaltungsakzessorischen §§ 284 ff StGB unanwendbar sein müssen.
Mit Blick auf den GlüStV kann aus teleologischen und systematischen Gründen nicht allein die monopolbegründende Regelung des § 10 GlüStV unanwendbar sein, sondern muss das gesamte Regelungssystem, einschließlich des Internetverbots in § 4 Abs. 4 GlüStV unanwendbar sein.
Im Übrigen fehlt es auch und gerade beim Internetverbot an einer „kohärenten Gesamtkonzeption“ (Streinz/Kruis) bzw. an einer „Gesamtkohärenz“ (Heine), da das deutsche Internetverbot Onlinepferdewetten (vgl. etwa: http://www.wettstar.de) und Online-Geldspielgeräte (vgl. etwa: http://www.7play.de) überhaupt nicht umfasst und zudem durch staatliche Angebote wie Lotto per E-Brief in Hessen (vgl.: https://service.deutschepost.de/epost/faq/was-ist-der-dienst-lotto-e-postbrief) ausgehöhlt wird.

3. Machen sich Glücksspielaufsichtsbehörden schadensersatzpflichtig, wenn sie nach dem 8.9.2010 Untersagungsverfügungen auf Grundlage des GlüStV erlassen?

Streinz/Kruis (NJW 2010, 3750):

Ein Staatshaftungsanspruch wegen des Vollzugs einer unionsrechtswidrigen Norm (…) setzt (…) einen hinreichend qualifizierten Verstoß voraus (Dazu Berg, in: Schwarze, (Hrsg.), EU-Kommentar, (o Fußn.63), Art. 288 EGV Rdnrn. 82 ff). Da die Frage der Vereinbarkeit des deutschen Monopols mit den unionsrechtlichen Vorgaben bis zu dem Urteil des EuGH vom 8. 9. 2010 stark umstritten war und sogar die Mehrheit der deutschen Gerichte wohl von einer Vereinbarkeit ausging, wird es bis zu diesem Urteil an einem hinreichend qualifizierten Verstoß fehlen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Kommission bereits am 31. 8. 2010 ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnete, da sich daraus (noch) nicht eindeutig die Unionsrechtswidrigkeit ergibt. Sollten nach dem 8. 9. 2010 allerdings Behörden gestützt auf die Vorschriften des GlüStV gegen private Wettanbieter vorgehen, so liegt aufgrund des Urteils Carmen Media ein hinreichend qualifizierter Verstoß vor, der zum Schadensersatz berechtigt, so weit die übrigen Voraussetzungen vorliegen (Schaden und Kausalität) (Vgl. EuGH, Slg. 1996, I-1029 = NJW 1996, 1267, Rdnr. 57 Brasserie du pêcheur).“

Zusammenfassende und abschließende Antwort:

Ein schlichtes aber bedeutsames „Ja“.