Entscheidungsbesprechung VG Köln, Beschlüsse vom 1. März 2022, 6 L 1277/21 und 6 L 1354/21 und die Auswirkungen für das deutsche Glücksspielrecht

Rechtsanwalt Dr. Nik Sarafi

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Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Köln zum NetzDG, welche auf Eilanträge von Google und Meta ergingen (VG Köln, Beschlüsse vom 1. März 2022, 6 L 1277/21 und 6 L 1354/21), sind auch für den Glücksspielsektor aufschlussreich und sollen daher nachfolgend näher betrachtet werden.

Im Kern steht das unionsrechtliche Herkunftslandprinzip, das § 3a NetzDG zu Fall bringt.

Nach Vorgaben des EuGH sind staatliche Eingriffe nur dann gerechtfertigt, wenn eine Ausnahme nach Art. 36 AEUV vorliegt. Der EuGH betont immer wieder – und so jetzt auch das VG Köln – dass dabei stets das Herkunftslandprinzip zu beachten ist: Wenn eine Ware oder Dienstleistung, die in einem Mitgliedstaat vorschriftsmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht bzw. angeboten wird, so darf sie nur ausnahmsweise in einem anderen Mitgliedsstaat vom Verkehr ausgeschlossen werden (Cassis-Rechtsprechung).

Und dieses Herkunftslandprinzip wird bei § 3a NetzDG nicht beachtet.

Dies stellt nicht nur einen weiteren Grund für die Unionsrechtswidrigkeit der Vorgaben zur Spielgestaltung in den § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 dar, sondern ist darüber hinaus auch Stolperstein für die Erlaubnisbedürftigkeit der einzelnen virtuellen Automatenspiele nach § 22a Abs. 1 S. 2 GlüStV 2021.

I. Zum Hintergrund: Die Beschlüsse des VG Köln

Am 1. Februar 2022 sind die in das NetzDG neu eingeführten Meldepflichten in Kraft getreten. Neu eingeführt wurde dabei – der in den Verfahren vor dem VG Köln streitgegenständliche – § 3a NetzDG. Dieser verpflichtet die Anbieter sozialer Netzwerke, Inhalte, die ihnen als rechtswidrig gemeldet werden, zu überprüfen und darüber hinaus zur Übermittlung der Inhalte an das Bundeskriminalamt, sofern die Inhalte Straftatbestände erfüllen wie beispielsweise das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86 StGB), die Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB), die Bildung krimineller Vereinigungen (§ 129 StGB) oder die Bedrohung (§ 241 StGB), also das Androhen eines Verbrechens gegen das Leben, gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gegen die körperliche Unversehrtheit oder gegen die persönliche Freiheit.

Unter anderem gegen § 3a NetzDG gingen die Google Ireland Limited und die Meta Platforms Ireland Limited gerichtlich vor und beantragten jeweils im Eilverfahren, festzustellen, dass § 3a NetzDG aufgrund dessen Unionsrechtswidrigkeit und des geltenden Herkunftslandprinzips für sie nicht gelte, sie also dadurch nicht verpflichtet werden, den Handlungen aus § 3a NetzDG zu folgen.

Das VG Köln hat daher beschlossen, dass § 3a NetzDG unionsrechtswidrig und deshalb in Bezug auf die Antragsteller nicht anzuwenden ist (VG Köln, Beschlüsse vom 1. März 2022, 6 L 1277/21 und 6 L 1354/21).

II. Zur Anwendbarkeit der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr auf Online-Glücksspiel

1. Zum Herkunftslandprinzip

Das Herkunftslandprinzip lohnt einer eingehenderen Betrachtung, weil dieses auch im Glücksspielbereich gilt.

Das VG Köln schreibt hierzu zunächst:

„Darüber hinaus ist § 3a NetzDG wegen Verstoßes gegen die Bestimmungen der RL 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“ - im Folgenden: ECRL) mit Unionsrecht unvereinbar und daher gegenüber der Antragstellerin unanwendbar. Nach Art. 3 Abs. 2 ECRL dürfen die Mitgliedstaaten den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat - so auch bei der in Irland ansässigen Antragstellerin - nicht aus Gründen einschränken, die in den koordinierten Bereich fallen (sog. Herkunftslandprinzip). [...] In Bezug auf § 3a NetzDG [findet] das Herkunftslandprinzip Anwendung. Nach Art. 2 lit. h i) 2. Gedankenstrich ECRL betrifft der koordinierte Bereich u.a. vom Diensteanbieter zu erfüllende Anforderungen in Bezug auf die Ausübung der Tätigkeit eines Dienstes der Informationsgesellschaft, beispielsweise Anforderungen betreffend das Verhalten des Diensteanbieters, Anforderungen betreffend Qualität oder Inhalt des Dienstes, einschließlich der auf Werbung und Verträge anwendbaren Anforderungen, sowie Anforderungen betreffend die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters. Die durch § 3a NetzDG statuierte Pflicht des Anbieters eines sozialen Netzwerks, gemeldete Verstöße auf das Vorliegen von Anhaltspunkten für bestimmte Straftaten zu überprüfen sowie bestimmte Daten an das Bundeskriminalamt zu übermitteln, betrifft den koordinierten Bereich der Ausübung der Tätigkeit des Diensteanbieters, namentlich Anforderungen an das Verhalten des Diensteanbieters. Die Argumentation der Antragsgegnerin, wonach die Prüf- und Übermittlungspflicht nicht in den koordinierten Bereich falle, überzeugt nicht. Soweit sie versucht, diese Verpflichtungen dem Kompetenzbereich des Unionsgesetzgebers zu entziehen, da Strafverfolgung eine allein mitgliedstaatliche Kompetenz sei, vermag dies weder den eindeutigen Wortlaut der Definition des koordinierten Bereichs noch die Existenz des Art. 15 Abs. 2 ECRL zu erklären. Denn diese im Abschnitt „Verantwortlichkeit der Vermittler“ verortete Vorschrift regelt ausdrücklich die Kompetenz der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen im Falle von mutmaßlichen rechtswidrigen Tätigkeiten oder Informationen der Nutzer von dem entsprechenden Diensteanbieter Auskunft zu erhalten. Dieser Norm bedürfte es überhaupt nicht, wenn Prüf- und Auskunftspflichten zur Ermöglichung der Strafverfolgung nicht dem koordinierten Bereich der Bestimmungen über die Verantwortlichkeit von Diensteanbietern unterfielen.“

Auch in Bezug auf § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 findet das Herkunftslandprinzip Anwendung. Denn § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 sieht vom Glücksspielanbieter zu erfüllende Anforderungen in Bezug auf die Ausübung der Tätigkeit eines Dienstes der Informationsgesellschaft vor – nämlich insbesondere Anforderungen betreffend die Ausgestaltung der angebotenen virtuellen Automatenspiele.

Ebenso wenig, wie sich der Gesetzgeber hinsichtlich des NetzDG nach dem VG Köln darauf zurückziehen konnte, dass § 3a NetzDG nicht in den koordinierten Bereich falle, kann in Bezug auf § 22a GlüStV die Nichtanwendbarkeit des Herkunftslandprinzips behauptet werden, da der Wortlaut des Art. 2 lit. h i) ECRL – wie das VG Köln darlegte – insoweit eindeutig ist.

2. Keine Ausnahme nach Art. 3 Abs. 3, 4 ECRL

Da § 3a NetzDG und § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 somit in den koordinierten Bereich fallen, gilt diesbezüglich Art. 3 Abs. 2 ECRL:

Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat nicht aus Gründen einschränken, die in den koordinierten Bereich fallen.

Von diesem Verbot sind nur Ausnahmen nach Maßgabe der Art. 3 Abs. 3 und 4 ECRL zulässig. Von den im Anhang zu Art. 3 Abs. 3 ECRL genannten Ausnahmen ist aber weder der Regelungsbereich des NetzDG noch des GlüStV 2021 umfasst. Deshalb kann eine Ausnahme nur nach den Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4 ECRL erfolgen.

Ob deren Voraussetzungen in Bezug auf § 3a NetzDG vorliegen, lässt das VG Köln im Ergebnis offen:

„Gemäß Art. 3 Abs. 4 ECRL können die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, die im Hinblick auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft von Absatz 2 abweichen [...]. § 3a NetzDG dient offensichtlich (vgl. § 3a Abs. 2 NetzDG: „zum Zwecke der Ermöglichung der Verfolgung von Straftaten“) dem Schutz der öffentlichen Ordnung, insbesondere der Ermittlung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich der Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität, sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen. Auf Grundlage der im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens nur möglichen, aber auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist ferner davon auszugehen, dass die von § 3a NetzDG vorgesehenen Maßnahmen erforderlich sind. Die Erforderlichkeit ist nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Maßstäben nur dann abzulehnen, wenn es eine Alternative gibt, die weniger eingriffsintensiv, aber gleich effektiv ist. Bei den Regelungen in § 3a NetzDG erscheint insbesondere diskussionswürdig, dass der Anbieter eines sozialen Netzwerks zum einen das Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für die nicht gerechtfertigte Erfüllung näher bezeichneter Strafvorschriften zu prüfen und zum anderen auf der Grundlage dieser eigenen Prüfung Nutzerdaten direkt an das Bundeskriminalamt auszuleiten hat.“

Für § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 wird das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4 ECRL aber zu verneinen sein.

Denn die Vorgaben zur Ausgestaltung der virtuellen Automatenspiele sind weder geeignet noch erforderlich, um die in § 1 S. 1 GlüStV 2021 genannten Ziele zu erreichen und deshalb evident unionsrechtswidrig (siehe dazu auch https://www.isa-guide.de/isa-law/articles/209926.html).

3. Nichteinhaltung des erforderlichen Verfahrens nach Art. 3 Abs. 4 lit. b, Abs. 5 ECRL

Selbst wenn die materiellen Voraussetzungen für eine Ausnahme von Art. 3 Abs. 2 ECRL nach Art. 3 Abs. 4 ECRL vorliegen würden, hätte der Gesetzgeber des GlüStV das nach Art. 3 Abs. 4 ECRL erforderlichen Verfahren einhalten müssen.

Der Gesetzgeber des NetzDG hat dies unterlassen, woran das VG Köln die Unionsrechtswidrigkeit des § 3a NetzDG festmacht:

„Denn die Antragsgegnerin hat jedenfalls die gemäß Artikel 3 Absatz 4 lit. b und Absatz 5 ECRL erforderlichen Verfahren nicht eingehalten. Um den Anforderungen an die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip in verfahrensrechtlicher Hinsicht zu genügen, muss der betreffende Mitgliedstaat gemäß Art. 3 Abs. 4 lit. b zweiter Gedankenstrich ECRL vor Ergreifen der betreffenden Maßnahmen - unbeschadet etwaiger Gerichtsverfahren, einschließlich Vorverfahren und Schritten im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung - die Kommission und den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Erbringer der genannten Dienstleistung ansässig ist, über seine Absicht, die betreffenden restriktiven Maßnahmen zu ergreifen, unterrichtet haben. Nach Art. 3 Abs. 4 lit. b erster Gedankenstrich ECRL muss der Mitgliedstaat zuvor den Sitzmitgliedstaat erfolglos zum Handeln seinerseits aufgefordert haben. Dass die Antragsgegnerin diese Verfahrensvorgaben gewahrt hat, ist für die Kammer nicht ersichtlich. Die insoweit übermittelten Mitteilungen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission betreffen offenkundig nur das Dringlichkeitsverfahren nach Art. 3 Abs. 5 ECRL (dazu gleich). Anhaltspunkte für eine konkrete Aufforderung an Irland oder eine entsprechende Unterrichtung nach diesen Bestimmungen fehlen. Sie werden auch im gerichtlichen Verfahren nicht aufgezeigt. Vielmehr beruft sich die Antragsgegnerin zuletzt (nur noch) auf das Vorliegen einer Dringlichkeit nach Art. 3 Abs. 5 ECRL. Ohnehin obläge der Antragsgegnerin der dezidierte Nachweis, dass sie die erforderlichen Handlungen gegenüber Irland und der Europäischen Kommission in Bezug auf sämtliche Gesetzgebungsvorhaben vorgenommen hat, die zur Einführung der §§ 3a und 3b NetzDG geführt haben.“

Derselbe Vorwurf ist auch den Gesetzgebern in Bezug auf den GlüStV 2021 zu machen: Denn eine entsprechende Aufforderung an Malta oder eine entsprechende Unterrichtung nach den Bestimmungen des Art. 3 Abs. 4 ECRL haben nicht stattgefunden. Auch die Mitteilungen betreffend den GlüStV 2021 an die europäische Kommission ist diesbezüglich nicht erfolgt.

Daran ändert sich auch nichts, sollte ein Fall der besonderen Dringlichkeit nach Art. 3 Abs. 5 ECRL vorliegen. In Bezug auf das NetzDG schreibt das VG Köln dazu:

„Die Tatbestandsvoraussetzungen des Dringlichkeitsverfahrens nach Art. 3 Abs. 5 ECRL sind nicht eingehalten. Nach Art. 3 Abs. 5 Satz 1 ECRL können die Mitgliedstaaten in dringlichen Fällen von den in Absatz 4 lit. b ECRL genannten Bedingungen abweichen. Eine Dringlichkeit in diesem Sinne ist nur bei einer - unvorhersehbaren, sofortiges Handeln erfordernden – [...] Situation anzunehmen, in der die Einhaltung des nach Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL vorgesehenen Verfahrens nicht möglich ist, ohne den Zweck der Maßnahme zu gefährden. Dies folgt schon daraus, dass Art. 3 Abs. 5 ECRL gerade von der Einhaltung des in Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL vorgesehenen Verfahrens suspendiert, aber zugleich in Art. 3 Abs. 5 Satz 2 ECRL verlangt, dass sowohl die Maßnahme selbst als auch die Gründe für das Absehen des vorgesehenen Aufforderungs- und Unterrichtungsverfahrens so bald wie möglich dem Sitzungsmitgliedstaat und der Kommission mitgeteilt werden. Dass eine solche Situation bei der Einführung von § 3a NetzDG vorgelegen hätte, hat die Antragsgegnerin nicht nachgewiesen. (Vgl. zur Forderung eines ordnungsgemäßen Nachweises: EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - C- 390/18 -, juris, Rn. 93).“

Das VG Köln macht dabei deutlich, dass selbst die Gewichtigkeit der Aufgabe – wie der Schutz des öffentlichen Meinungsaustauschs – nicht generell mit der Dringlichkeit ihrer Umsetzung i.S.d. Art. 3 Abs. 5 ECRL gleichzusetzen ist:

„Die Kammer verkennt nicht, dass das Ziel der Gesetzesinitiativen der Erfüllung einer gewichtigen Aufgabe dient, nämlich dem Schutz des öffentlichen Meinungsaustauschs vor den schädigenden Auswirkungen von Beiträgen mit strafbaren Inhalten. [...] Allerdings ist die hohe Bedeutung einer Maßnahme nicht generell mit der Dringlichkeit ihrer Umsetzung gleichzusetzen. Zudem ist die Annahme einer Dringlichkeit bei einem – regelmäßig nicht zur sofortigen Bewältigung drängender Probleme tauglichen – alle Verfahrensschritte durchlaufenden Gesetzgebungsverfahren aus Sicht der Kammer wenig plausibel. Dies mag bei behördlichen Einzelmaßnahmen gegenüber Netzwerkanbietern anders sein. Ein solcher Fall steht hier indes nicht zur Beurteilung.“

Auch das ist ohne weiters auf § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 übertragbar. Da selbst wenn eine besondere Gewichtigkeit angenommen werden würde – welche allerdings aufgrund der fehlenden Geeignetheit und Erforderlichkeit der Regulierungen nicht vorliegt – würde die besondere Gewichtigkeit für sich allein genommen keine Dringlichkeit begründen können. Und schließlich hätte selbst das die Mitteilung an den Mitgliedstaat Malta oder die europäische Kommission erforderlich gemacht.

Mit anderen Worten: Aus dem zuvor genannten folgt, dass bezüglich § 22a GlüStV 2021 nichts anderes übrig bleibt als bezüglich § 3a NetzDG: Das Anwendungsverbot aufgrund Unionsrechtswidrigkeit.

Das VG führte hierzu abschließend aus:

„Der Verstoß gegen die Verfahrensbestimmungen des Art. 3 Abs. 5 und 4 ECRL hat zur Folge, dass § 3a Abs. 1, 2, 3 und 4 NetzDG und die durch diese Normen der Antragstellerin auferlegten Pflichten ihr nicht entgegengehalten werden können, vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - C- 390/18 -, juris, Rn. 96, auf sie - die Antragstellerin - mit anderen Worten keine Anwendung finden. Wegen des Zusammenhangs der in § 3a Abs. 5, 6 und 7 NetzDG getroffenen Regelungen mit den Regelungen in § 3a Abs. 1, 2, 3 und 4 NetzDG ist § 3a NetzDG im Ganzen auf die Antragstellerin unanwendbar.“

III. Schlussfolgerungen für die glücksspielrechtliche Praxis

Aufgrund des Verstoßes gegen die ECRL sind die Vorgaben zur Spielgestaltung in § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 nicht anzuwenden. Ein Anbieter, der virtuelle Automatenspiele anbietet, ohne § 22a Abs. 3-11 GlüStV 2021 zu berücksichtigen, dürfte sich nach hiesiger Auffassung auf die Nichtanwendung der Vorschrift berufen, sofern die virtuellen Automatenspiele aus seinem Angebot in dem Mitgliedstaat, in welchem er seinen Sitz hat, den geltenden Vorgaben entsprechend. Mit anderen Worten: Wer aus Malta durch die Malta Gaming Authority (MGA) reguliert und lizenziert wird und eine Lizenz der MGA hält, betreibt z.B. virtuelle Automatenspiele in einer Art, wie sie in einem Europäischen Mitgliedsstaat den geltenden Vorgaben entspricht.

1. Zudem: Keine weitere Prüfung durch deutsche Behörden erlaubt

Die Auswirkungen der ECRL auf die Glücksspielregulierung sind aber noch viel weitergehend. Denn das Herkunftslandprinzip aus Art. 3 Abs. 2 ECRL bedeutet auch, dass sich die Anbieter nicht einer erneuten Kontrolle in einem anderen Mitgliedstaat unterziehen lassen müssen, ob sie ein geeignetes Schutzniveau beispielsweise in Bezug auf Jugendschutz, Spielerschutz, Suchtprävention oder Geldwäsche aufweisen. Auch dies sind Vorgaben, welche die Ausgestaltung einer Dienstleistung betreffen, bezüglich der es nach dem Herkunftslandprinzip allein darauf ankommt, dass die Vorgaben im Sitzland eingehalten werden. Deshalb sind die entsprechenden Vorschriften ebenso unionsrechtswidrig, sofern sie diesbezüglich eine erneute Überprüfung eines Glücksspielanbieters vorsehen, der ein ähnliches Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat bereits erfolgreich durchlaufen hat. Inwiefern eine Abweichung vom Herkunftslandprinzip hier nach Art. 3 Abs. 4 ECRL erforderlich ist, hat der Gesetzgeber aber nicht begründet und wird dies auch nicht können, da die Vorgaben weithin nicht geeignet bzw. nicht erforderlich zur Zielerreichung sind.

Ein Online-Glücksspielanbieter, der aus Malta heraus mit einer Lizenz der MGA Online-Glücksspiele veranstaltet, hat beispielsweise bereits umfangreiche und strenge Voraussetzungen umfassende Erlaubnis- und Prüfverfahren bezüglich der Einhaltung von Jugend- und Spielerschutz, Sucht- und Betrugsprävention, Geldwäscheprävention etc. durchlaufen.

Diesen Anbieter einer erneuten Prüfung nach den Vorgaben eines anderen Mitgliedstaates zu unterziehen, würde dem Herkunftslandprinzip widersprechen und ist nur unter den Voraussetzungen der Art. 3 Abs. 4, Abs. 5 ECRL möglich, welche bei der Setzung des GlüStV 2021 aber nicht eingehalten wurden.

Selbst wenn man der Meinung wäre, dass Erlaubnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht per se eine Bindungswirkung in Deutschland entfalten würden, so wäre der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt, sofern keine konkrete Einzelfallentscheidung getroffen werden würde. Es wäre unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit angebracht, sich konkret mit dem Erlaubnisverfahren der MGA auseinanderzusetzen und den konkreten Vergleich zu ziehen, ob Anbietern, die aus dem Mitgliedstaat Malta das Erlaubnisverfahren bereits positiv durchlaufen haben, erneut eine Hürde in Deutschland gestellt werden müsste; mit anderen Worten: Eine Erlaubnis zu verlangen stellt einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar und dieser Eingriff muss natürlich gerechtfertigt werden. Wenn jedoch eine Erlaubnis aus einem anderen Mitgliedstaat vorhanden ist, so bedarf es einer Rechtfertigung, diese Erlaubnis nicht zu akzeptieren. Der Grund, weshalb viele Anbieter ihre Erlaubnis einem anderen Land wie z. B. Malta habe liegt nicht daran, dass es dort „einfacher“ wäre, an eine Lizenz zu gelangen. Vielmehr ist dies dem Umstand geschuldet, dass in Malta ein Erlaubnisverfahren überhaupt möglich war, während der deutsche Staat jahrelang fälschlicherweise davon ausging, für das Anbieten von Glücksspiel aus dem Internet ein Totalverbot verhängen zu müssen, da das Internet eine zu hohe Gefahrenquelle darstellen würde. Dass dieses Totalverbot nunmehr aufgehoben wurde ist im Grunde ein Eingeständnis, dass der Gesetzgeber falsch lag.

2. Schlussfolgerungen für die Vorgaben des § 22a Abs. 1 S. 2 GlüStV

Besonders praxisrelevant wird dies in Bezug auf die nach § 22a Abs. 1 S. 2 GlüStV erforderliche Erlaubnis der Veranstalter virtueller Automatenspiele für die jeweils angebotenen einzelnen virtuellen Automatenspiele, da aufgrund des Herkunftslandsprinzip die maltesischen Vorgaben zur Spielgestaltung auch in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt werden müssten und nicht eigenständige Vorgaben zur Erbringung der Dienstleistung gemacht werden dürfen, sofern die Spiele bereits durch eine maltesische Behörde auf die Erfüllung der dortigen Voraussetzungen überprüft wurde. Nebenbei angemerkt sei, dass ohne hin nicht klar ist, wie die Behörde ihr Ermessen bei der Bewertung eines Spiels ausüben wird.

Kurz gesagt: Ein virtuelles Automatenspiel, was bereits in einem anderen Mitgliedstaat geprüft und als mit den Vorgaben übereinstimmend erachtet wurde, darf nicht von einem anderen Mitgliedstaat einer erneuten Prüfung unterzogen werden, solange nicht die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4, Abs. 5 ECRL vorliegen.

Selbst wenn man die Meinung vertreten würde, dass Erlaubnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht per se eine Bindungswirkung in Deutschland entfalten, wäre der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt, sofern keine konkrete Einzelfallentscheidung getroffen würde. Es wäre unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit angebracht, sich konkret mit dem Erlaubnisverfahren der MGA auseinanderzusetzen und den konkreten Vergleich zu ziehen, ob Anbietern, die aus dem Mitgliedstaat Malta bereits das Erlaubnisverfahren durchlaufen haben, erneut eine Hürde gestellt werden muss. Weshalb vielen Anbieter ihre Erlaubnis aus Malta bezogen haben liegt nicht daran, dass es dort „einfacher“ wäre, an eine Lizenz zu gelangen sondern ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass in Malta ein Erlaubnisverfahren überhaupt möglich war und der deutsche Staat fälschlicherweise davon ausging, für das Anbieten von Glücksspiel aus dem Internet sei ein Totalverbot notwendig. Dass dieses Totalverbot aufgehoben wurde ist im Grunde ein Eingeständnis, dass der Gesetzgeber falsch lag.

3. Schlussfolgerungen für die Vorgaben des Umlaufbeschlusses

Nicht zuletzt hat die Nichteinhaltung des nach Art. 3 Abs. 4, Abs. 5 ECRL geltenden Herkunftslandsprinzip bei Erlass des Umlaufbeschlusses vom 9. September 2020 der Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder in Verbindung mit den Gemeinsamen Leitlinien auch die Folge, dass die im Umlaufbeschluss vorgesehenen Regelungen zu den Anforderungen der Ausgestaltung der Tätigkeiten unionsrechtswidrig sind. Auch diese sind deshalb nicht anzuwenden. Denn auch hierbei fehlt es an einem Ausnahmegrund i.S.d. Art. 3 Abs. 4 ECRL und erst recht an der Einhaltung des nach Art. 3 Abs. 4, Abs. 5 ECRL vorgeschriebenen Verfahrens.

Das bedeutet, dass ein Online-Glücksspielanbieter, der auch entgegen dem Umlaufbeschluss weiterhin Online-Glücksspiel unter Beachtung der Vorgaben seines Sitzlandes in Ausübung seiner Dienstleistungsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten angeboten hat, nicht unter Verweis auf die Nichteinhaltung der Vorgaben des Umlaufbeschlusses als unzuverlässig eingestuft werden darf.

Schließlich verdeutlicht das Herkunftslandprinzip ein weiteres Mal, dass es eine rechtlich relevante Tatsache darstellt, ob ein Anbieter von Online-Glücksspielen mit einer europäischen Lizenz sein Angebot in Ausübung der europäischen Dienstleistungsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten anbietet oder ob ein Anbieter ohne Lizenz oder aus dem außereuropäischen Ausland Online-Glücksspiele in einem Mitgliedstaat veranstalten will. Denn das Herkunftslandprinzip bringt zum Ausdruck, dass es grundsätzlich ausreicht, die rechtlichen Vorgaben des Sitzlandes zu erfüllen, um europaweit Dienstleistungen legal erbringen zu dürfen.