Spielhallen: EuGH präzisiert Darlegungs- und Beweislast der Behörden für die zwingende Erforderlichkeit staatlicher Eingriffe im Bereich des Glücksspiels

Gerichte sind keine „Reparaturbetriebe“ der Verwaltung: EuGH C-685/15 vom 14.6.2017

Ein Beitrag von Rechtsanwalt Rolf Karpenstein

Beschränkungen und Verbote im Bereich der Sportwetten und des Glücksspiels sind an den Grundfreiheiten zu messen.

Der Gerichtshof bestätigte nun mit klaren Worten die Systematik des EU-Rechts, demnach die Grundfreiheiten an die Behörden der Mitgliedstaaten gerichtete höherrangige Verbotsnormen sind. Daraus folgt, dass die Behörde, die in die Grundfreiheiten eines Sportwetten- oder Glücksspielanbieters eingreift, darlegungs- und beweisbelastet dafür ist, dass der von ihr ausgehende Eingriff nicht nur auf einer Rechtsgrundlage im nationalen Recht beruht, sondern auch zwingend erforderlich und verhältnismäßig sowie Ausdruck einer systematischen und kohärenten Regulierung und Behördenpraxis ist, um ausnahmsweise die Verletzung der höherrangigen Verbotsnormen zu legitimieren. Es ist nicht Aufgabe des Wirtschaftsbeteiligten, die fehlende Legitimation des Eingriffs darzulegen und zu beweisen.

Diese Systematik des höherrangigen EU-Rechts wird häufig nicht nur „übersehen“, sondern auf den Kopf gestellt. So sind richterliche Entscheidungen ergangen, in denen die Behörde ihrer Darlegungs- und Beweislast nicht nachgekommen ist (weil sie auch keine Legitimation ihres Eingriffes darlegen und nachweisen könnte), der Eingriff in Grundfreiheiten dennoch als unionsrechtskonform beurteilt wurde. Dieser Praxis hat der EuGH einen Riegel vorgeschoben, obwohl seine bisherige Rechtsprechung keinen Anlass für Zweifel hinsichtlich der Darlegungslast und der Beweislast geben konnte.

Der in Gesetzeskraft erwachsene Tenor der EuGH-Entscheidung lautet zusammengefasst:

„Die Art. 49 und 56 AEUV, wie sie insbesondere im Pfleger-Urteil ausgelegt wurden, sind im Licht des Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Regelung oder Praxis entgegenstehen, die zur Folge hat, dass das Gericht an die Stelle der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaates zu treten hat, denen es obliegt, die Beweise vorzulegen, die erforderlich sind, damit das Gericht prüfen kann, ob die Beschränkung gerechtfertigt ist.“

Damit ist die Praxis nicht vereinbar, dass sich die Behörden zur Begründung von Beschränkungen im Bereich des Glücksspiels schlicht auf ihre Interpretation der nationalen Rechtslage stützen, ohne darzulegen und zu beweisen, weshalb es im Lichte der konkreten Anwendungsmodalitäten, insbesondere der omnipräsenten anreizenden und ermunternden Werbung der Bundesländer für ihre eigenen Glücksspiele, zwingend notwendig sein soll, die jeweilige Beschränkung oder das jeweilige vollständige Verbot durchzusetzen. Die Behörden haben eine „Bringschuld“, die ihnen die Gerichte nicht abnehmen können und nicht abnehmen dürfen. Trägt z.B. in einem Gerichtsverfahren die Behörde nicht substantiiert vor, weshalb der von ihr ausgehende Eingriff in Grundfreiheiten zwingend erforderlich sowie Ausdruck einer bundesweiten systematischen und kohärenten Glücksspielpolitik ist, obwohl z.B. die anreizende und ermunternde Werbung der staatlichen Lotterieunternehmen von vornherein der Annahme einer solchen systematischen und kohärenten Glücksspielpolitik entgegensteht, ist es den nationalen Gerichten unionsrechtlich untersagt, den Behörden unter die Arme zu greifen und Versäumnisse der Behörde zu reparieren. Der EuGH führt aus:

„Diese Gerichte können nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können sie – wie die Generalanwältin in den Nrn. 51 bis 56 und 68 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat – nicht verpflichtet sein, anstelle der genannten Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C390/12, EU:C:2014:281), diese Behörden vorzubringen haben. Werden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben.“

Der EuGH sagt damit nichts spektakulär Neues, aber er präzisiert Altes mit spektakulär klaren Worten. Er stellt klar, wie das EU-Recht in glücksspielrechtlichen Konstellationen, die per se Binnenmarktrelevanz haben und sich an den Grundfreiheiten messen lassen müssen, in der Vergangenheit richtig anzuwenden gewesen wäre und in Zukunft richtig anzuwenden ist. Die Darlegungslast und die Beweislast für die Legitimation des behördlichen Eingriffs liegt bei der Behörde. Sie kann weder auf das Gericht übergewälzt werden noch darf das Gericht diese Last der Behörde abnehmen.

Auch betont der EuGH erneut (Rn. 53), dass die Prüfung des nationalen Gerichts (und auch die Prüfung ihres Eingriffs in Grundfreiheiten durch die Behörde) „dynamisch“ sein muss und sich an der Entwicklung der Umstände nach dem Erlass des staatlichen Eingriffs zu orientieren hat. Konkret: Behörden, die Eingriffe im Glücksspielbereich vornehmen, wie z.B. die Schließung einer Spielhalle, müssen „dynamisch“ darlegen und beweisen, dass damit die angeblich beabsichtigte Bekämpfung von Suchtgefahren auch tatsächlich systematisch und kohärent erreicht wird.

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