Der unionsrechtlich verbürgte Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit gilt nicht zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich

Pressemitteilung Nr. 61/17 des Gerichtshofs der Europäischen Union

Urteil in der Rechtssache C-591/15
The Queen, auf Antrag von: The Gibraltar Betting and Gaming Association / Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

Die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen stellt nämlich unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt dar, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist

Die Gibraltar Betting and Gaming Association („GBGA“) ist ein Wirtschaftsverband, dessen Mitglieder, die vor allem in Gibraltar niedergelassen sind, Fernglücksspieldienstleistungen an Kunden innerhalb und außerhalb des Vereinigten Königreichs erbringen.

Im Jahr 2014 erließ das Vereinigte Königreich eine neue Steuerregelung für bestimmte Glücksspielabgaben. Nach dieser neuen Regelung, die auf dem „Verbrauchsort“-Prinzip beruht, haben Glücksspielanbieter für die Fernglücksspieldienstleistungen, die sie an im Vereinigten Königreich ansässige Spieler erbringen, eine Abgabe zu entrichten. Nach der bis dahin geltenden Steuerregelung, die auf dem „Leistungsort“-Prinzip aufbaute, hatten nur die im Vereinigten Königreich ansässigen Dienstleistungserbringer Abgaben auf ihre Bruttogewinne aus an Kunden weltweit erbrachten Glücksspieldienstleistungen zu entrichten.

GBGA focht diese neue Steuerregelung vor dem High Court of Justice (England & Wales) an, weil sie darin einen Verstoß gegen den Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht. Die im Ausgangsverfahren beklagte britische Finanzverwaltung macht geltend, dass sich GBGA nicht auf unionsrechtliche Rechtspositionen berufen könne, da die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen nicht vom Unionsrecht erfasst werde. Jedenfalls könne in der neuen Steuerregelung, da es sich um eine unterschiedslos anwendbare steuerliche Maßnahme handle, keine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs gesehen werden.

Der High Court of Justice möchte vom Gerichtshof wissen, ob Gibraltar und das Vereinigte Königreich für die Zwecke des freien Dienstleistungsverkehrs als Teile eines einzigen Mitgliedstaats anzusehen sind oder ob Gibraltar in diesem Bereich aus unionsrechtlicher Sicht den Verfassungsstatus eines gegenüber dem Vereinigten Königreich gesonderten Gebiets hat, so dass die Dienstleistungen zwischen beiden als Handel zwischen zwei Mitgliedstaaten zu behandeln sind.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Verträge auf die europäischen Hoheitsgebiete Anwendung finden, deren auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt. Gibraltar ist ein europäisches Hoheitsgebiet, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat, nämlich das Vereinigte Königreich, wahrnimmt, so dass das Unionsrecht für dieses Hoheitsgebiet gilt.

Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass nach der Beitrittsakte von 1972 in bestimmten Bereichen des Unionsrechts die Unionsrechtsakte auf Gibraltar nicht anwendbar sind. Der freie Dienstleistungsverkehr ist davon jedoch nicht betroffen. Demnach findet Art. 56 AEUV auf Gibraltar Anwendung.

Sodann verweist der Gerichtshof auf seine Rechtsprechung, wonach die Bestimmungen des Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr auf einen Sachverhalt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, keine Anwendung finden.

Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.

Der Gerichtshof bestätigt, dass Gibraltar nicht zum Vereinigten Königreich gehört, stellt aber auch fest, dass dieser Umstand für die Feststellung, ob zwei Hoheitsgebiete für die Zwecke der Anwendung der Bestimmungen über die Grundfreiheiten einem einzigen Mitgliedstaat gleichzustellen sind, nicht ausschlaggebend ist.

Er befindet, dass es keine Anhaltspunkte gibt, aufgrund deren die Beziehungen zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich für die Zwecke von Art. 56 AEUV als den Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten gleichartig angesehen werden könnten. Ein gegenteiliger Befund liefe darauf hinaus, die im Unionsrecht anerkannten Bande zwischen diesem Hoheitsgebiet und diesem Mitgliedstaat zu leugnen. Das Vereinigte Königreich hat nämlich die aus den Verträgen fließenden Verpflichtungen gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten in Bezug auf die Anwendung und Umsetzung des Unionsrechts im Hoheitsgebiet von Gibraltar übernommen.

Schließlich bekräftigt der Gerichtshof, dass das Ergebnis, zu dem er gelangt ist, weder dem Ziel, das Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, noch dem Status Gibraltars nach nationalem Verfassungsrecht oder nach dem Völkerrecht Abbruch tut. Er betont, dass es nicht in dem Sinne verstanden werden kann, dass damit der gesonderte und unterschiedliche Status von Gibraltar angetastet würde.

Das Urteil im Volltext finden Sie hier (sobald verfügbar).