Nachtrag zu „Freispruch in Sonthofen“

Ein Beitrag von Rechtsanwalt Rolf Karpenstein

In dem Beitrag vom 16.6.2016 zum „Freispruch in Sonthofen“ und zu dem wirklichen Inhalt der Ince-Entscheidung vom 4.2.2016 wurde klargestellt, dass der EuGH die Unanwendbarkeit des Erlaubnisvorbehaltes des § 4 GlüStV bestätigt hat, wenn und weil das „Sportwettenmonopol“ unionsrechtswidrig ist. Das Fehlen einer deutschen Erlaubnis – sprich der Erlaubnisvorbehalt – darf einem EU-Anbieter nicht entgegengehalten werden, weder verwaltungsrechtlich noch strafrechtlich.

Damit ist klar, dass diejenigen behördlichen oder richterlichen Entscheidungen, die zwischen Monopolregelung und Erlaubnisvorbehalt unterscheiden, falsch sind. Die „Monopolregelung“ ist nicht § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 GlüStV, sondern der Erlaubnisvorbehalt in § 4. Und der Erlaubnisvorbehalt ist umgekehrt auch die „Monopolregelung“, jedenfalls immer dann, wenn der Staat – aus welchem Grund auch immer – keine Erlaubnis an private Wettanbieter erteilt. Weshalb keine Genehmigungen an Private erteilt werden, ist für die Frage, welche Regelung das Wett-Monopol begründet, vollkommen gleichgültig. Ob die Erlaubnisbehörden aus reiner Willkür keine Genehmigungen an private Anbieter erteilen, weil es ihnen von den deutschen Gerichten untersagt wird, oder ob eine deutsche Regelung der Genehmigungserteilung an Private entgegensteht, ist aus Sicht des durch den Erlaubnisvorbehalt ausgeschlossenen Anbieters egal. Die Eingriffsintensität des Erlaubnisvorbehaltes ist unabhängig von dem Grund für die Erlaubnisverweigerung stets identisch.

Aufgrund der seit 15 Jahren bestehenden Unionsrechtswidrigkeit des so genannten Sportwettenmonopols ist daher nicht der an die Behörden gerichtete § 10 Abs. 5 GlüStV bzw. Abs. 6 GlüÄndStV unanwendbar, sondern der Erlaubnisvorbehalt. Für EU-Anbieter, die im Rahmen ihrer EU-Lizenz in Deutschland Dienste anbieten, besteht daher zwar keine generelle Erlaubnisfreiheit in der EU. Die Erlaubnis im Ursprungsland i.V.m. dem freien Dienstleistungsverkehr berechtigt jedoch dazu, bundesweit Sportwetten und Glücksspiele legal anzubieten. Verbotsverfahren gegenüber EU-Anbietern sind deutschen Behörden durch Artikel 56 AEUV verboten.

Anderes gilt in Erlaubnisverfahren. Das an die deutschen Behörden gerichtete Verbot des § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 ist zwar unanwendbar, wenn sich ein privater Wettanbieter in einem Erlaubnisverfahren gegenüber der Behörde, die eine Erlaubnis mit dem Hinweis auf § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 verweigert, auf das höherrangige Unionsrecht beruft.

Die Erlaubnisbehörde dürfte aber nicht von sich aus § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 GlüStV bzw. GlüÄndStV unangewendet lassen, wenn sich der Erlaubnisbewerber nicht ihr gegenüber auf den Anwendungsvorrang beruft. Der Verwaltung räumt das Unionsrecht nämlich nicht die Befugnis ein, von sich aus EU-rechtswidrige deutsche Normen unangewendet zu lassen.

Diese oft verkannte Systematik des EU-Rechts drückt z.B. die brandenburgische Verwaltung in ihrer Veröffentlichung zur Bedeutung des Anwendungsvorrangs (http://bravors.brandenburg.de/de/verwaltungsvorschriften-219396) so aus: „Über Fälle, in denen ein Unternehmer einen Anwendungsvorrang geltend macht, zu dem noch kein BMF-Schreiben vorliegt, wird gebeten zu berichten. Der Verwaltung steht demgegenüber kein Berufungsrecht zu. Folglich kann eine für einen Unternehmer gegenüber dem Umsatzsteuergesetz nachteilige Bestimmung einer EG-Richtlinie nicht durch die Verwaltung angewendet werden.“ Das ist korrekt. Geht die Anwendung des EU-Rechts durch die Verwaltung gegenüber dem nationalen Recht zu Lasten des Bürgers und beruft sich der Bürger gegenüber der Verwaltung nicht explizit auf das EU-Recht, ist der Verwaltung die Anwendung des EU-Rechts verboten.

Warum ist diese Systematik so wichtig? Weil in fast allen anhängigen Verbotsverfahren die Behörde das EU-Recht zu Lasten der Wettanbieter anwendet, obwohl sich der Wettanbieter gegenüber der Behörde gar nicht auf die Unanwendbarkeit des § 10 Abs 5 GlüStV a.F. bzw. Abs. 6 GlüÄndStV berufen hat. In Verbotsverfahren muss die Behörde stets und immer davon ausgehen, dass ein EU-Anbieter unionsrechtswidrig von der Ausübung seines Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr durch § 4 in Verbindung mit § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 mit der Folge ausgeschlossen ist, dass der Erlaubnisvorbehalt nicht angewendet werden darf.

Die Untersagungsbehörde darf in einem Untersagungsverfahren gegenüber einem EU-Anbieter hingegen nicht fingieren, das Verbot des § 10 Abs. 5 bzw. – nachdem auch die Experimentierklausel gescheitert ist – das Verbot des § 10 Abs. 6 GlüÄndStV sei unanwendbar. Diese Befugnis hat die Behörde nicht, weil sich der auf Unterlassung in Anspruch genommene private Wettanbieter in dem Untersagungsverfahren nur auf die Unanwendbarkeit des Erlaubnisvorbehaltes, nicht aber auf die Unanwendbarkeit des § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 beruft. Das heißt folgendes: Die Untersagungsbehörde darf nicht fingieren, dass der private Wettanbieter, gegen den sie vorgeht, entgegen § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 theoretisch eine Genehmigung bekommen könnte.

Genau dies aber fingieren die deutschen Untersagungsbehörden und einige obere Gerichte. Sie fingieren unter Berufung auf den Anwendungsvorrang eine deutsche Rechtslage, in welcher ein Einzelner entgegen § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 (und entgegen der unionsrechtswidrigen und gescheiterten Experimentierklausel) eine deutsche Genehmigung bekommen könnte. Dann prüfen die Untersagungsbehörden und die oberen Gerichte fiktiv die Genehmigungsfähigkeit des privaten Anbieters, obwohl dieser überhaupt keine Genehmigung beantragt hat, sondern sich gegen eine Untersagungsverfügung zur Wehr setzt. Am Ende scheitert die Genehmigungsfähigkeit in diesem fiktiven Erlaubnisverfahrens, weil Genehmigungsanforderungen angewendet werden, die das staatliche Monopol mit der Notwendigkeit der Bekämpfung von Suchtgefahren legitimieren, nicht aber den freien Markt – der in der deutschen Gesetzeslage gar nicht vorgesehen ist – regulieren sollen. In der Folge kommen die Untersagungsbehörden auf der Grundlage ihres fiktiven Erlaubnisverfahrens immer zur fehlenden Erlaubnisfähigkeit und halten an Verbotsverfügungen fest.

Diese unsägliche staatliche Praxis, die im Ergebnis das Monopol aufrechterhält oder privaten Wettanbietern diejenigen beschränkenden Regelungen des Staatsvertrages aufzwingt, die zur Legitimation des Monopols und nicht zur Regulierung eines vom freien Wettbewerb gekennzeichneten Marktes für Glücksspiele oder Sportwetten geschaffen wurden, hat der Gerichtshof in Ince als unionsrechtswidrig beurteilt.

Wer den wirklichen Gehalt dieses EuGH-Urteils verstehen will, muss dazu das Vorstehende erneut sowie die Rn. 29 in Ince lesen. Der Vorlagebeschluss stellte die Rechtsprechung des BVerwG in 8 C 16.12, 14.12 und 8 B 36.14 auf den Prüfstand unionsrechtlicher Grundsätze. In Rn. 29 heißt es beim EuGH:

29 Auf der einen Seite sind manche deutschen Gerichte, darunter die oberen Verwaltungsgerichte, wie auch manche Verwaltungsbehörden der Ansicht, dass allein § 10 Abs. 5 GlüStV, der den Ausschluss privater Veranstalter vorsehe, mit dem Unionsrecht unvereinbar sei, wohingegen die in § 4 Abs. 1 GlüStV aufgestellte Erlaubnispflicht grundsätzlich damit vereinbar sei. Diese Gerichte haben folglich die Bestimmung über den Ausschluss privater Veranstalter aufgrund des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts unangewandt gelassen. Sie waren sodann der Auffassung, dass für solche Veranstalter die materiellen Voraussetzungen gelten müssten, die nach dem Glücksspielstaatsvertrag und den Ausführungsgesetzen der Länder für die Erteilung von Erlaubnissen an staatliche Veranstalter vorgesehen seien.

Somit ist nach diesen Gerichten in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein privater Anbieter nach einem fiktiven Erlaubnisverfahren eine Erlaubnis unter den Bedingungen bekommen kann, die für die staatlichen Monopolträger und ihre Vermittler vorgesehen sind (im Folgenden: fiktives Erlaubnisverfahren).

In diesem fiktiven Erlaubnisverfahren, welches die Untersagungsbehörde und nicht etwa die Erlaubnisbehörde rein fiktiv durchführt, ohne dass dem Anbieter darin jemals eine Erlaubnis erteilt werden könnte, hat – wie der EuGH in Rn. 31 hervorhebt – selbstredend niemals ein Anbieter eine Erlaubnis erhalten. Es geht den Behörden auch nicht darum, eine Erlaubnis zu erteilen, sondern darum, das Monopol über den Umweg der fingierten Erlaubnismöglichkeit zu perpetuieren.

Die dem Bundesverwaltungsgericht entgegenstehende Auffassung deutscher Gerichte und Behörden legt der EuGH zusammengefasst in Rn. 32 dar. Jene Auffassung sieht zu Recht den Erlaubnisvorbehalt als die eigentliche Monopolregelung an und versteht – wie das BVerwG in 8 C 14.09 und 15.09 (Rn. 60) nicht das an die Behörden gerichtete Verbot des § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 als den legitimationsbedürftigen Eingriff in Grundfreiheiten.

In Rn. 32 führt der EuGH aus:

„32 Auf der anderen Seite sind sonstige deutsche Gerichte der Auffassung, dass es, da sich eine Verletzung des Unionsrechts aus dem Zusammenwirken der Erlaubnispflicht und des Ausschlusses privater Veranstalter, die im Glücksspielstaatsvertrag und in den Ausführungsgesetzen der Länder vorgesehen seien, ergebe, für eine Behebung der festgestellten Rechtswidrigkeit nicht ausreiche, den Ausschluss privater Veranstalter unangewandt zu lassen und stattdessen das Erlaubnisverfahren zu fingieren.Für diesen Ansatz führt das vorlegende Gericht an, dass das Verfahren und die Erlaubniskriterien, die nach dem Glücksspielstaatsvertrag und den Ausführungsgesetzen dazu vorgesehen seien, allein auf die staatlichen Veranstalter von Sportwetten und ihre Vermittler zugeschnitten seien.“

Der EuGH musste sich zwischen zwei Seiten entscheiden. Die eine Seite – so z.B. das VG Stuttgart oder auch das VG Köln in seiner früheren Besetzung – versteht zu Recht als „Monopolregelung“ den Erlaubnisvorbehalt in Verbindung mit dem an die Behörden gerichteten Verbot, anderen als staatlichen Anbietern eine Erlaubnis zu erteilen. Aufgrund der Unionsrechtswidrigkeit des Sportwettenmonopols ist daher der Erlaubnisvorbehalt unanwendbar und darf in Verbotsverfahren dem EU-Anbieter nicht entgegengehalten werden.

Die „andere Seite“ sieht als die Monopolregelung lediglich das an die Behörden gerichtete Verbot, anderen als staatlichen Anbietern eine Erlaubnis zu erteilen an, nicht aber den Erlaubnisvorbehalt. Dann fingiert diese „andere Seite“ im Rahmen von Untersagungsverfahren zu Lasten des EU-Bürgers, das an die Erlaubnisbehörde (und natürlich nicht an die Untersagungsbehörde) gerichtete Verbot des § 10 Abs. 5 bzw. Abs. 6 sei nicht anwendbar. Anschließend prüft die Untersagungsbehörde in diesem fiktiven Erlaubnisverfahren anhand der auf das Monopol zugeschnittenen (oder von der Behörde aus dem Hut mit sog. Checklisten gezauberten) Erlaubnisanforderungen, fiktiv die Einhaltung der Monopolanforderungen. Das Vorliegen aller Monopolanforderungen wird stets verneint, weil ein privater Anbieter selbstverständlich legitime fiskalische Ziele im Rahmen der strengen Regularien seines Ursprungslandes verfolgt und nicht systematisch und kohärent allein auf die Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet ist.

Der EuGH hat sich unmissverständlich für die „eine Seite“ entschieden und die „andere Seite“, namentlich insbesondere BVerwG 8 C 16.12, 14.12 und 8 B 36/14 als unionsrechtswidrig beurteilt. Das in Rn. 29 der EuGH-Entscheidung definierte fiktive Erlaubnisverfahren gehört daher der Vergangenheit an. EU-Anbieter, die sich an die strengen regulatorischen Vorgaben ihrer EU-Erlaubnis halten, dürfen durch die deutschen staatlichen Stellen nicht bei der Ausübung ihres Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr behindert werden.

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