Behördliche Willkür auf Vollzugsebene – Eine Anmerkung zu VG Darmstadt – 3 L 1807/14.DA

Von Dr. Bernd Berberich und Claus Hambach, LL.M., Hambach & Hambach Rechtsanwälte

Die Anzeichen verdichten sich zunehmend, dass der aktuelle Erste Glücksspieländerungsstaatsvertrag (im Folgenden: „GlüStV“) zum Scheitern verurteilt ist. Mit deutlichen Worten hat die Europäische Kommission im Rahmen einer Stellungnahme des laufenden EU-Pilot- Verfahrens vom 30. Juni 2015 (Az. 7625/15/GROW) erhebliche Zweifel an der EU-Konformität des GlüStV geäußert.

In diesem Schreiben finden sich Sätze wie: „Die Lenkung des Glücksspiels in geordnete und überwachte Bahnen muss bei einem Marktanteil von 30 % nicht regulierter Glücksspiele als gescheitert betrachtet werden.“ Oder: „Der Vollzug ist uneinheitlich und blendet in der Pra- xis wesentliche Komponenten wie den nicht regulierten Online Markt aus.“

Dabei hat die Kommission noch nicht einmal den seit vielen Jahren existierenden fast 100%- igen Marktanteil von in Deutschland nicht lizensierten Sportwettenanbietern erwähnt. Insoweit berichtete die SZ jüngst, dass „der staatliche Anbieter Oddset kaum noch eine Rolle spiele“: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sportwetten-in-der-grauzone-1.2514205

Gerade die letztgenannten „Vollzugsprobleme“ werden anschaulich durch einen aktuellen Beschluss des VG Darmstadt vom 13. Mai 2015 (Az. 3 L 1807/14.DA) belegt. Danach bewertete das Gericht die gegen einen in Gibraltar lizenzierten Online-Glücksspielanbieter erlassene Untersagungsverfügung als „offensichtlich rechtswidrig“ und ordnete folgerichtig die aufschiebende Wirkung der hiergegen erhobenen Klage an. Mittlerweile wurde der Beschluss rechtskräftig und die erlassende Aufsichtsbehörde hob die Untersagungsverfügung auf.

I. Wesentlicher Entscheidungsinhalt

Das VG Darmstadt begründet seinen Beschluss maßgeblich damit, dass es dem angegriffenen Bescheid an einer Darlegung der notwendigen Ermessenserwägungen fehlt:

„Die Formulierung „kann“ (die erforderlichen Anordnungen erlassen) eröffnet der Behörde ein Einschreitens- und Auswahlermessen. Es ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen, dass die Aufsichtsbehörde sich dieses Ermessensspielraums bewusst war (…).“

Dieses „Ermessensdefizit“ belegt das VG Darmstadt anhand von zwei Punkten näher:

1. Mögliche rechtliche Unmöglichkeit

Das Gericht moniert zunächst, dass die Begründung der Untersagung, öffentliches Glücksspiel über das Internet in Hessen zu vermitteln, es offen lässt, in welcher Weise die Antragstellerin diese Verpflichtung erfüllen soll und ob die technischen Voraussetzungen hierfür überhaupt gegeben sind. Konkret nimmt das Gericht Bezug zu den heute weit verbreiteten Anonymisierungsprogrammen sowie den vielfältigen Möglichkeiten, von mobilen Geräten aus im Internet zu surfen und verweist dabei auf ein Urteil des VG Ansbach vom 28. Januar 2014 (Az. AN 4 K 12.01017) in einem ähnlich gelagerten Fall. Auch das VG Darmstadt hat Zweifel, ob Geolokalisierung überhaupt ein geeignetes Mittel darstellt.

In diesem Kontext betont das VG Darmstadt unter Bezugnahme auf VG Berlin, Beschluss vom 21. Februar 2012 (Az. 35 L 376.11) zudem die behördliche Pflicht, den Bestimmtheitsgrundsatz zu wahren, indem es wie folgt formuliert:

„Sind jedoch mögliche Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtung mit einer gewissen Fehlerquote behaftet, muss für den Adressaten der Verfügung schon aus Gründen der Rechtssicherheit hinreichend bestimmt sein, welche der mögli- chen Maßnahmen zur Beschränkung des Internetzugriffs konkret ergriffen wer- den sollen und ob der Antragsgegner eine entsprechende Fehlerquote akzep- tiert, ohne Vollstreckungsmaßnahmen zu ergreifen. Der Antragstellerin darf nicht das Risiko aufgebürdet werden, dass der Antragsgegner das angedrohte Zwangsgeld festsetzt, weil er ergriffene Maßnahmen nicht für ausreichend er- achtet (…).“

2. Keine einheitliche Verwaltungspraxis

Das VG Darmstadt setzt sich zudem mit dem aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG abzuleitenden Gleichheitsgrundsatz auseinander, wonach eine Gefahrenabwehrbehörde gehalten ist, gegen sämtliche Anbieter vergleichbarer Geschäftsmodelle grundsätzlich gleichermaßen einzuschreiten bzw. in den Fällen eines abgestuften Vorgehens gegen einzelne Anbieter oder Anbietergruppen sachliche Gründe anzugeben (vgl. VGH Bad.Württ., Beschluss vom 24. Februar 2014 – 6 S 1394/13). Das Gericht hält es „zumindest fraglich“, ob die Vorgehensweise des Antragsgegners den genannten Anforderungen entspricht und belegt dies u.a. mit folgenden Ausführungen:

„Das Regierungspräsidium Darmstadt wurde in der vorliegenden Sache tätig, nachdem ihm das Hessische Ministerium des Innern und für Sport ein Schreiben von „Lotto Bremen“ vom 19. Oktober 2012 an den Vorsitzenden des Glücks- spielkollegiums und Schreiben der Staatlichen Lotterieverwaltung Bayern vom 6. Februar 2013 und 23. Mai 2013 übersandt hatte, in denen auf illegale Tätig- keiten der Antragstellerin auf dem Glücksspielmarkt bzw. ihrer in Deutschland ansässigen Partner hingewiesen und um „weitere Veranlassung“ gebeten wer- de. Der Verwaltungsvorgang des Antragsgegners lässt daher die Annahme zu, dass das Untersagungsverfahren „auf Zuruf“ konkurrierender staatlicher Lotte- riegesellschaften, nicht jedoch aufgrund eines geplanten, koordinierten und evtl. abgestuften Vorgehens gegen alle Anbieter von illegalem Glücksspiel durchgeführt wurde.“

Des Weiteren betont das Gericht, dass vor dem Hintergrund des Gebots der Gleichbehandlung zu erwarten wäre, dass der Antragsgegner beginnt, wenigstens gegen eine nicht geringe Anzahl von anderen Unternehmen vorzugehen, und dabei ein planmäßiges Vorgehen erkennen lässt. Für die Kammer ist dies aber nicht ersichtlich und wurde von der Glücks- spielaufsicht auch nicht glaubhaft gemacht.

II. Kurzbewertung

Der Beschluss zeigt beispielhaft auf, dass Glücksspielaufsichtsbehörden nur allzu oft ihren Pflichten im Rahmen einer fehlerfreien Ermessensentscheidung nicht sachgerecht nachkommen. Dies mag daran liegen, dass das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen aus Behördensicht allzu klar erscheint. Tatsächlich aber liegt die eigentliche Ursache darin, dass schon die Grundkonzeption des GlüStV an erheblichen Mängeln leidet, indem ein undurchsichtiges, teilweise in sich widersprüchliches Regulierungskonzept geschaffen wurde, welches „an der Praxis vorbei“ geht: Das Festhalten an der staatlichen Monopolstellung im (erwiesenermaßen kaum suchtrelevanten) Lotteriebereich, die Beibehaltung eines Internetverbots für Casinospiele (während vergleichbar gefährliche Sportwetten von Gesetzes wegen im Internet veranstaltet werden dürfen) sowie die nicht nachvollziehbare Fixierung auf 20 Lizenzen im Sportwettenbereich bedingen aufkommende Wertungswidersprüche und Darlegungspflichten, bei denen die Exekutive – durchaus nachvollziehbar – die „Waffen“ streckt.

Gerade bezüglich der Durchsetzung eines Internetverbots bleiben die Aufsichtsbehörden auf sich allein gestellt, obwohl schon die Erfahrungen unter dem Regime des GlüStV a.F. gezeigt haben, wie schwierig bis unmöglich sich die Umsetzung eines solchen Verbots auf Vollzugsebene erweist. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass Gerichte wie das VG Darmstadt den Finger in die „offene Wunde“ legen und die Bestimmtheit gerade bei weitreichenden Untersagungsverfügungen anmahnen.

Zu berücksichtigen ist hierbei insbesondere der Charakter einer Untersagungsverfügung als Dauerverwaltungsakt. So müsste der betroffene Anbieter theoretisch jederzeit die rasante technische Entwicklung überprüfen und – ohne Rücksicht auf eine „finanzielle Machbarkeit“ – den aktuellen „Stand der Technik“ ermitteln und daran orientiert Geolokalisierungsverfahren anwenden. Es ist aber schon zu hinterfragen, ob überhaupt eine allgemeine Meinung hinsichtlich eines „Stands der Technik“ auf diesem Gebiet ermittelbar ist. Dies alles sind erhebliche Unsicherheiten, mit welchen der Adressat einer Untersagungsverfügung nicht belastet werden darf.

Immerhin ist zu begrüßen, dass nunmehr Bewegung in die verfahrene Situation zu kommen scheint. So sprach sich Innenminister Peter Beuth (CDU) dafür aus, die Begrenzung auf 20 Konzessionen bei Sportwetten aufzuheben sowie die Zusammenarbeit der Länder beim Glücksspiel neu zu ordnen (vgl. Bild.de). Es bleibt abzuwarten, ob dieser Appell auf „offene Ohren“ stößt oder doch – wie allzu oft in der Vergangenheit – ungehört wieder verhallt.

Noch wird mit allen Mitteln bekämpft, um die alten Strukturen aufrechtzuerhalten. Wie der Beschluss des VG Darmstadt zeigt, ist es aktenkundig, dass insbesondere die Landeslotteriegesellschaften sich den Aufsichtsbehörden „bedienen“, um sich unliebsame Konkurrenz vom Leibe zu halten. Es geht auf dem Lotterie-Markt um sehr viel Geld. Gerne wird dabei staatlicherseits übersehen, dass es in einem monopolisierten Bereich dem staatlichen Anbieter aber gerade nicht primär um den „schnöden Mammon“ gehen darf. Angesichts der Schaffung neuer attraktiver Produkte („Eurojackpot“), der Ausweitung der Werbemaßnahmen seitens der Landeslotteriegesellschaften (im Jahr 2013 haben sich die Werbeausgaben gegenüber dem Vorjahr um etwa 50 Prozent erhöht) sowie privater, staatlich lizenzierter Vermittler sowie der Öffnung des Internets sowie sonstiger Vertriebswege („Lotto-App“) scheinen die „Väter des GlüStV“ allerdings die Quadratur des Kreises für möglich zu halten.

Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wann das BVerfG bzw. der EuGH – ähnlich wie beim Sportwettenmonopol unter dem Regime des GlüStV a.F. – dazwischen gehen und das eigentlich Offensichtliche, nämlich die Verfassungs- bzw. Unionsrechtswidrigkeit der staatlichen Monopolstellung im Lotteriebereich feststellen werden. Es ist nichts Neues: Gerade wenn es um (viel) Geld geht und weitgehender Konsens auf politischer Ebene besteht, kann es Jahre dauern, bis das Offensichtliche sich auch tatsächlich offenbart.

III. Ausblick

Die nächsten Monate werden zeigen, ob sich doch noch ein politischer Wille hin zu einer praxisgerechten, an der Wirklichkeit orientierten Regulierung des Glücksspielmarktes in Deutschland durchsetzen kann. Sollte dies nicht der Fall sein, wird es (wieder) eines Paukenschlags aus Brüssel, Luxemburg oder Karlsruhe bedürfen, damit sich an den jahrzehntelang festgefahrenen Strukturen etwas ändern kann. Dem Verbraucherschutz wäre es zu wünschen, denn dieser bleibt bei dem aktuellen Regulierungs-Chaos erwiesenermaßen auf der Strecke.