Die Bedeutung des Europarechts für verwaltungsgerichtliche Verfahren

Rechtsanwalt Martin Arendts, M.B.L.-HSG

Arendts Rechtsanwälte
Perlacher Str. 68
D - 82031 Grünwald (bei München)
Wie bereits in Ausgabe 32 unseres Newsletter „Sportwettenrecht aktuell“ ausgeführt, war Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts in dem Sportwetten-Urteil vom 28. März 2006 (Az. 1 BvR 1054/01) alleine deutsches Verfassungsrecht. Durch eine Hinweis auf die Parallelität der Prüfung nach europäischem Gemeinschaftsrecht hat das Verfassungsgericht jedoch auch eine fehlende Rechtfertigung der Einschränkung der europäischen Grundfreiheiten, hier insbesondere der bei Wettdienstleistungen maßgeblichen Dienstleistungsfreiheit, bejaht.

Trotz dieses Hinweises auf die Maßgeblichkeit des Europarechts ignorieren zahlreiche deutsche Behörden und Verwaltungsgerichte weiterhin die einschlägigen europarechtlichen Regelungen. So meinte etwa das Verwaltungsgericht Halle in völliger Verkennung der Rechtslage, dass Europarecht nicht unmittelbar anwendbar sei, sondern erst in nationales Recht transformiert werden müsse (was lediglich für Richtlinien der Europäischen Union stimmt, sicherlich jedoch nicht für die Grundfreiheiten). Andere Verwaltungsgerichte meinen, dass durch die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts das Sportwettenmonopol nunmehr plötzlich europarechtskonform geworden sei (so etwa das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen). Das Gericht prüft dann allerdings weder die tatsächliche Umsetzung (auf die es europarechtlich ankommt) noch die teilweise deutlich weiter gehenden europarechtlichen Anforderungen (Nichtdiskriminierungsverbot gegenüber Anbietern bzw. Interessenten aus anderen EU-Mitgliedstaten, Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages durch das Kartell des sog. Deutschen Lotto- und Toto-Blocks etc.).

Teilweise grenzt das Verhalten der Verwaltungsgerichte an Rechtsbeugung, wenn zunächst ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht festgestellt wird, die sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshof ergebene Rechtsfolge, nämlich die Nichtanwendbarkeit der betreffenden gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Regelung, jedoch in rechtlich haltloser Weise verneint wird. Einen extremen Fall hierfür stellt die in der letzten Woche verkündete Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Nordrhein-Westfalen dar (Beschluss vom 28. Juni 2006, Az. 4 B 961/06). Das OVG zitiert das Gambelli-Urteil des Europäischen Gerichtshofs und stellt zutreffend fest, dass die gegenwärtige Rechtslage im Widerspruch zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit stehe. Dann nimmt es Bezug auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1978, aus dem sich die in inzwischen ständiger Rechtsprechung anerkannte Pflicht ergibt, unvereinbare nationale Normen nicht anzuwenden. Dieses Ergebnis passt dem 4. Senat des OVG jedoch nicht. Er meint daher, eine „inakzeptable Gesetzeslücke“ entdeckt zu haben. Aus dem angeblichen „Prinzip der Rechtssicherheit“ kommt das OVG zu dem völlig überraschenden Ergebnis, den Anwendungsvorrang bei den Grundfreiheiten suspendieren zu dürfen (was klar gegen die ständige Rechtsprechung des allein zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständigen Europäischen Gerichtshofs verstößt).

Überraschend ist diese nicht nachvollziehbare Kehrtwendung des OVG vor allem deshalb, weil dem Gericht die Schlussanträge des Generalanwalts des Europäischen Gerichtshofs vom 16. Mai 2006 in den verbundenen Rechtssachen Placanica u. a. vorlagen. Aus diesen ergibt sich klar, dass es keinesfalls eine „Gesetzeslücke“ gibt. Vielmehr reicht europarechtlich die Kontrolle im Herkunftsstaat aus, eine weitere Überprüfung im Empfangsstaat ist nicht erforderlich. Die vom OVG angeführte angebliche Gefährdung „wichtiger Allgemeininteressen“ ist daher nur vorgeschoben. Das OVG meint damit die ständige Rechtsprechung des EuGH seit mehr als 40 Jahren (vgl. grundlegend EuGH, Rs. 6/64 (Costa ./. ENEL), Slg. 1964, 1251 ff. und EuGH, Rs. 103/88 (Fratelli Constanzo), Slg. 1989, 1839 ff.) aushebeln zu können. Auch verfassungsrechtlich ist dieses Vorgehen nicht haltbar. Das Bundesverfassungsgericht hat den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber einfachem deutschen Recht bereits mehrfach vorbehaltlos anerkannt (vgl. grundlegend BVerfG 31, 145, 173 f.). Nach ständiger Rechtsprechung ist sofort ein europarechtskonformer Zustand herzustellen.

Ein Skandal wird aus dieser Entscheidung vor allem dadurch, dass bei Verkündung bereits zahlreiche Befangenheitsanträge gegen den 4. Senat des OVG vorlagen und dass der Senat trotzdem diese Entscheidung in einer weit verbreiteten Pressemitteilung als „unanfechtbar“ und maßgeblich für sämtliche mehr als 200 Parallelverfahren bezeichnet hat. Zahlreiche Ordnungsbehörden haben die Ausführungen in der Pressemitteilung zu Anlass genommen, unmittelbar danach ausdrücklich anzukündigen, trotz Schutzanträgen nach § 80 Abs. 5 VwGO Untersagungsverfügungen sofort zu vollstrecken und keine gerichtliche Entscheidung mehr abzuwarten. Der verfassungsrechtlich garantierte effektive Rechtschutz wird damit komplett ausgehebelt, was eigentlich nicht Aufgabe eines Gerichts sein sollte. Man „produziert“ damit in Hunderten von Fällen gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzansprüche, da „sehenden Auges“ und völlig offenkundig gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen wird (wovon ja selbst das OVG ausgeht). Das Land Nordrhein-Westfalen und die betreffenden Gebietskörperschaften werden voraussichtlich in Millionenhöhe in Anspruch genommen werden, nachdem bereits Ende des Jahres mit einer weiteren Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu rechnen ist (verbundene Rechtsachen Placanica u. a.). Deutschland hat angesichts dieser Missachtung des Europarechts auch schlechte Karten in dem gegen Deutschland wegen der Marktabschottung bei Sportwetten laufenden Vertragsverletzungsverfahren.