Das „56-Prozent-Märchen“ – Falsche Zahlen

Ein Beitrag von Robert Hess, Geschäftsführer Bally Wulff – erschienen in der Mai-Ausgabe von games&business

Die Behauptung, 56 Prozent der Geldspiel-Umsätze kämen von pathologischen Spielern, ist nicht haltbar. Die Basis der Berechnung ist nicht korrekt, erläutert Robert Hess, Geschäftsführer Kommunikation und Politik bei Bally Wulff.

In einer Präsentation auf dem deutschen Suchtkongress 2010 in Tübingen zum Thema „Die sozialen Folgekosten des gewerblichen Automatenspiels“ vertrat Dr. Ingo Fiedler die These, 56 Prozent der Umsätze der Glücksspielautomatenbranche würden durch die Spielverluste pathologischer Spieler erzielt. Diese These ist nicht haltbar, wie eine Analyse der Annahmen ergibt, die den Berechnungen von Dr. Fiedler zugrunde liegen.

Dr. Fiedler teilt in seinen Überlegungen die Gesamtheit aller am Automatenspiel teilnehmenden Personen in zwei Gruppen ein. Dieses sind die Gruppen der problematischen Spieler und die Gruppe der Freizeitspieler. Herr Dr. Fiedler berechnet so den Anteil der Einnahmen der Spielautomatenbranche, welcher durch pathologische Spieler zustande kommt (Umsatzanteil Süchtige), indem er das unterschiedliche Spielverhalten von pathologischen Spielern und das von Freizeitspielern ins Verhältnis setzt.

Dazu multipliziert er zunächst den prozentualen Anteil problematischer Spieler mit dem Umsatzfaktor problematischer Spieler. Der Umsatzfaktor beschreibt den Wert, von dem Fiedler annimmt, dass er im Vergleich zum unproblematischen Freizeitspieler am Umsatz beteiligt ist. Während der Freizeitspieler den Faktor 1 erhält, soll ein problematischer Spieler mehr als das 10-fache an Umsatz erzielen. Das Ergebnis aus prozentualem Anteil problematischer Spieler mal ihrem Umsatzfaktor setzt er schließlich ins Verhältnis, indem er im Nenner sowohl problematische und unproblematische Spieler berücksichtigt. In seinen Berechnungen legt er für den Anteil der problematischen Spieler einen Wert von 11% an der Spielerpopulation zugrunde. Den Prozentwert für die Freizeitspieler legt er entsprechend bei 89 % fest. In der prozentualen Aufteilung richtet sich Fiedler nach einer Studie über die Auftretenswahrscheinlichkeiten der Glücksspielsucht von Becker (2009). Für den Umsatzfaktor wird von Fiedler ein Wert von 10,5 eingesetzt. Er berichtet, diesen einer australischen Studie entnommen zu haben (Productivity Comission, 2009). Diese sollte aussagen, dass problematische Spieler 10,5-mal mehr am Umsatz beteiligt sind als Freizeitspieler (Faktor 1). Die Frage nach der Existenz dieser Studie bleibt uns Fiedler allerdings schuldig (siehe Punkt 2).

Folgt man nun den Berechnungen Fiedlers, so beträgt der Umsatzanteil im Bereich der Spielautomaten durch „süchtige“ Spieler 56,4%. Bei eingehender Prüfung der einzelnen Werte dieser Formel muss jedoch festgestellt werden, dass die Ausführungen Fiedlers z.T. erhebliche Schwächen aufweisen.

1. 
Fehlerhafte Darstellung der prozentualen Verteilung von problematischen und Freizeitspielern

Nehmen wir beispielsweise den Anteil an problematischen Spielern innerhalb der Spielerpopulation, welchen Dr. Fiedler mit dem Wert von 11% beziffert. Hier haben wir es mit einer Fehldarstellung der zugrunde liegenden Studie Becker, 2009, Gambling, pathologisches Spielen und Prävalenz, zu tun. In dieser Quelle (Becker, 2009) wird lediglich eine Auftretenswahrscheinlichkeit von 0,1173% bis 0,3864% an pathologischen Glücks­spielern für Geldspielgeräte in der Gesamtbevölkerung der BRD angegeben. Somit ist der von Herrn Fiedler verwendete Wert nicht nur um den Faktor 100 erhöht, sondern in einen völlig anderen Zusammenhang gesetzt worden.

Becker beschreibt (2009) in seiner Studie also nicht die Auftretenswahrscheinlichkeit für pathologisches Spielen an Geldspielautomaten bezogen auf alle Spieler, sondern auf die Gesamtbevölkerung der BRD. Hierin sind auch alle Personen enthalten, die an anderen Formen von Glücksspiel (z.B. Lotto) partizipieren oder keine Form des Glücksspiels nutzen. Bisher existiert nur ein Wert, der tatsächlich zur Verwendung dieser Berechnungen als angemessen erscheint. So geht z.B. Bühringer (2007) von einem Anteil pathologisch spielender Gäste an Automaten von 5,1 % aus. Die Überprüfung der Werte macht also deutlich, dass der Anteil der problematischen Spieler und damit auch derjenigen, die in ihrer Freizeit unproblematisch spielen, nicht korrekt verwendet wurde.

2. 
Fehlende Quelle bzw. nicht übertragbarer Wert für den Umsatzfaktor

Ein weiterer Wert, welchen Fiedler in seinen Ausführungen verwendet, ist der des Umsatzfaktors 10,5 für problematische Spieler. Um zu überprüfen, aus welcher Quelle Fiedler den Wert für den Umsatzfaktor für seine Berechnung (10,5) entnommen hatte,
wurden auf der von Fiedler angegebenen Homepage der australischen Productivity Commission (www.pc.gov.au) sämtliche Veröffentlichungen, die nach Eingabe der Suchwörter „gambling“ und „2009“ aufgeführt wurden, durchsucht. Trotz systematischer Durchsicht konnte keine Publikation aus dem Jahre 2009 ermittelt werden, in der ein solcher Wert genannt wurde.

Zudem lässt sich die Übertragbarkeit des von Fiedler verwendeten Umsatzfaktors, offensichtlich australischer Herkunft, anzweifeln. Dies liegt darin begründet, dass der angegebene Wert allem Anschein nach einer Berechnung entstammt, die abbildet, wie viel höher der Umsatz der australischen problematischen Spielergruppe im Verhältnis zur Gruppe der Freizeitspieler ist. Zum einen wissen wir, dass das Spielverhalten von Land zu Land nicht vergleichbar ist. Zum anderen spielt der Anteil der Gesamtbevölkerung, welcher an Glücksspielen partizipiert, eine erhebliche Rolle. So nehmen z.B. 80% der australischen Gesamtbevölkerung an Glücksspielen teil (Productivity Commission, 1999), während der Anteil der glückspielenden Bevölkerung in Deutschland bei 49,4% (Bühringer et al., 2007) liegt. Diese Tatsache lässt eine Übertragung australischer Ergebnisse auf deutsche Verhältnisse kritisch erscheinen.

Ein weiterer Unterschied liegt in der australischen Regulierung des Glücksspielmarktes, der sich stark von den deutschen Regelungen unterscheidet. Werte, die für andere Länder gelten, können demnach nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen werden. So äußern z.B. Meyer und Bachmann (2011) zum Bereich der Spielsperre, dass Analysen dadurch erschwert werden, weil es in unterschiedlichen Ländern verschiedene rechtliche Rahmenbedingungen, Grundannahmen und Umsetzungen in der Praxis gibt. Für den konkret vorliegenden Fall bedeutet dies, dass ein Umsatzfaktor, der für Australien gültig ist, nicht automatisch auch für Deutschland gilt.

Dies wird unter anderem auch daran deutlich, dass Australien die Top-Ten-Liste der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Spielverlust anführt (Gaming Awareness Foundation of Nova Scotia, 2011). Der durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Verlust beträgt in Australien 1.288 $. Den zehnten Platz nimmt Spanien mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Verlust von 418 $ ein. Deutschland ist noch unter diesem Niveau und wird daher überhaupt nicht in dem Ranking aufgeführt.

Aufgrund der vorangegangenen Ausführungen ist die dargestellte Berechnung von Herrn Dr. Fiedler kaum haltbar, da keiner der zugrunde gelegten Werte für die Berechnung korrekt erscheint. Es ist daher äußerst unwahrscheinlich, dass der daraus abgeleitete Wert von 56,4% der Realität nahe kommt. Um eine realistische Einschätzung vornehmen zu können, müsste ein deutscher Umsatzfaktor sowie eine Auftretenswahrscheinlichkeit der pathologischen Spieler innerhalb der Spielerpopulation angesetzt werden. Es ist daher zwingend erforderlich, spezifische Studien durchzuführen, welche den deutschen Verhältnissen entsprechen. Nur auf solider Grundlage ist es möglich, Spielerschutz nicht ins spekulative Reich der Vermutungen abgleiten 
zu lassen.