Vom Regelfetischismus

Michael Keiner
Poker-Experte
E-Mail: laserase@aol.com


Seit letztem Freitag bin ich in Hamburg. Der Grund ist ausnahmsweise nicht pokertechnischer Natur, sondern die mittelbare Konsequenz meines siebenwöchigen WSOP-Trips, von dem ich vier Wochen krank war. Die längst überfällige Nasennebenhöhlenoperation hatte ich schon einige Jahre vor mir her geschoben, aber jetzt war Schluss mit lustig. Da ich beim Thema Gesundheit zu keinerlei Kompromissen bereit bin, wollte ich natürlich vom besten Spezialisten in Deutschland operiert werden, und eben der hat seine Praxisklinik in Hamburg. Die eigentliche Operation fand am Montag statt und ist hervorragend verlaufen. Mittlerweile habe ich die Klinik schon wieder verlassen und bleibe noch zwei Tage im Grand Elysee Hotel, wo sich das Umfeld für die ambulante Nachbehandlung doch etwas komfortabler gestalten lässt.

Aber zwischen den Voruntersuchungen am letzten Freitag und der OP am Montag lag ja ein ganzes Wochenende, welches ich der Potlimit Omaha Partie im Casino Esplanade widmen wollte. Der Partie selbst eilte ein legendärer Ruf voraus, obwohl ich die Rahmenbedingungen gelinde gesagt als „suboptimal“ bezeichnen möchte. 300 € Minimum Buy-in bei Blinds von 5/10 ist nicht gerade deep stacked, zumal ein Rebuy nach erfolglosem All-in für schlappe 150 € möglich ist. Oft führt diese Buy-in Regel dazu, dass einige Kandidaten immer wieder versuchen, ihre 150 € möglichst preflop in die Mitte zu bringen, so dass gar kein Boardplay mehr möglich ist. Da es aber beim Omaha so gut wie nie und im Gegensatz zu Texas Hold’em keine klaren „preflop“ Favoritenhände gibt, kann das Ganze auf diese Art und Weise leicht zu einem Glücksspiel degenerieren.
Offen gestanden fand meine Skepsis schon am ersten Abend reichlich Nahrung. Ich weiß, dass drei Tage Spielteilnahme längst nicht ausreichen, um sich eine klare Meinung zu bilden, aber eine Grundtendenz ist mir aus anderen Locations nur allzu bekannt: Sowie jemand ein paar hundert Euro vorne ist, erschallt der Ruf „Seat open“. Auf Dauer führt das bei allen Anwesenden zu einem extrem vorsichtigen Agieren bei den deep Stacks einerseits und jener schon vorher zitierten preflop All-in Strategie bei den super short Stacks andererseits. Mittelfristig haben solche Konstellationen keine guten Überlebenschancen. Aber, wie gesagt, drei Tage sind keineswegs repräsentativ genug, um die Qualität einer Partie beurteilen zu können.

Wirklich überrascht war ich dann jedoch von einigen, doch recht „eigenwilligen“ Hausregeln. 2 Beispiele seien hier aufgeführt:

1. Out of Turn Action

Wenn ein Spieler eine Wette tätigt, obwohl er noch nicht an der Reihe ist, muss er seinen Einsatz zurücknehmen und darf nur noch passiv agieren, also checken oder den Einsatz eines vorhergehenden Spielers callen. Bei einigen Dealern muss er sogar noch zur Strafe für seine „Out of Turn Action“ einen Blind (10 €) in den Pot geben.

2. Karten über der Linie

Wenn die Karten eines Spielers eine ominöse Linie auf dem Tisch vollständig passieren, ist die Hand des Spielers tot, auch wenn sie noch nicht den Muck berührt hat.

Für jeden einleuchtend ist, dass eine Pokerpartie klare Regeln haben muss. Jede Pokerregel sollte allerdings ein Ziel verfolgen: Sie sollte im besten Interesse des Spiels für Fairness sorgen und gleichzeitig alle Spieler, insbesondere aber die Unerfahrenen, schützen. Eine Regel, die um ihrer selbst willen eingeführt wird, ist so überflüssig wie ein Kropf.
„Out of Turn Action“ ist in den meisten Fällen eine Verletzung der Etikette und bringt nur in seltenen Fällen einen strategischen Vor- bzw. Nachteil für die anderen Beteiligten. International wird das so gehandhabt, dass der „Out of Turn“ Agierende an seinen Satz gebunden ist, insoweit ein übergangener Spieler nicht noch ein eigenes Bet tätigt. Die Hamburger Regel mit der Verurteilung zur Passivität ist definitiv nicht im Interesse des Spiels. Nehmen wir einmal an, dass ich einen mittelprächtigen Draw spiele und eine billige Turncard sehen möchte. Wenn ich jetzt agiere, obwohl ich nicht an der Reihe bin, muss ich checken, insoweit niemand vor mir ansetzt. Die anderen haben aber meine „versuchte“ Wette gesehen und werden jetzt vorsichtig sein, außer, sie halten eine Monsterhand. In vielen Fällen wird jetzt einfach durchgecheckt und ich erhalte eine kostenlose Turncard. Ist das fair?

Noch heftiger ist die Geschichte mit der ominösen Linie auf dem Tisch, die ohnehin nur im deutschsprachigen Raum existiert. Gerade bei Multiway-Action kann es vorkommen, dass ich den letzten zu agierenden Spieler nach meinem Anspiel einfach übersehe, insbesondere, wenn er seine Karten mit beiden Händen covert. Ich gebe jetzt meine Hand frei, um den Pot in Empfang zu nehmen, muss aber feststellen, dass ich den Pot kampflos verloren habe, weil meine Karten über die 5 cm vor mir verlaufende Linie gewandert sind. Natürlich ist auch mein letzter Wetteinsatz verloren, obwohl mein Gegner nicht mal callen muss. Leute, wo bleibt da die Verhältnismäßigkeit der Mittel?

Um es gleich vorweg zu sagen: Während der drei Tage in Hamburg ist mir persönlich glücklicherweise niemals ein Regelverstoß passiert, aber ich konnte beobachten, wie einzelne Spieler davon betroffen waren. Meist waren es die etwas weniger geübten Amateure, die dann natürlich frustriert aufgestanden sind. Wollen wir diese Leute wirklich vom Tisch verprellen oder sie mit Regeln schützen, die im besten Interesse des Spiels sind?

Euer Michael von free-888.com