Stilblüten der Varianz!

Michael Keiner
Poker-Experte
E-Mail: laserase@aol.com


Natürlich ist mir klar, dass Turnierwochen überaus seltsame Verläufe nehmen können. Über 10 Jahre auf der Tour haben die verschiedensten Vorlagen für die skurrilsten Drehbücher geliefert. Und natürlich ist mir auch klar, dass die kosmisch völlig unbedeutenden Pendelbewegungen der Varianz und die daraus resultierenden Standardabweichungen von dem Mittelwert der Erwartung jedem Stochastiker nicht einmal ein Lächeln entlocken könnten. Aber aus der egozentrischen Sicht eines Pokerspielers heraus bilden jene komplett normalen Ereignisse das Fundament einer Verschwörungstheorie, die vermeintlich die Grundpfeiler der uns bekannten Mathematik erschüttern.

Sieben Turniere habe ich in den vergangenen neun Tagen im Concord Card Casino gespielt, keinen einzigen Finaltisch erreicht, nicht einmal ins Preisgeld bin ich gekommen. Auf dem langen und schmerzvollen Weg durch dieses Festival wollte ich schon das Buch der Wahrscheinlichkeitstheorie neu schreiben: Drei Outs für den Gegner ist gleich 50 Prozent Gewinnchance, zwei Outs entsprechen einer Drittelchance und mit einem verbleibenden Out gewinnt er immer noch jedes vierte Spiel. Bitte nicht verwirren lassen; die gerade getätigte Aussage entbehrt jeder mathematischen Erkenntnis und beschreibt nur ein Phänomen, dass ich ohne jeden Bezug zur Wissenschaft als „persönlich erlebte Wahrscheinlichkeit“ umschreibe.

Beim Omaha-Turnier beispielsweise sitze ich zwei Stunden nach Ende der Rebuyphase mit etwa 28.000 Chips und doppeltem Average recht komfortabel in meinem Stuhl und schiele schon heimlich auf den Preisgeldtopf der ersten drei Plätze, obwohl noch über 40 Teilnehmer dabei sind. Nun, man muss sich eben immer Ziele setzen! Rechts von mir ein junger Deutscher, der freimütig zugibt, dass dies sein allererstes Omaha-Turnier ist. Er kommt vom Texas Hold’em, ist im Omaha völlig unbedarft und fragt mich während der ersten Stunden des Turniers förmlich Löcher in den Bauch, wie ich diese oder jene Hand gespielt hätte, was vernünftig und unvernünftig ist. Er macht einen ganz patenten Eindruck und so gebe ich ihm präzise Auskunft, so gut ich es eben kann.

Auf einmal ist er mit seinen letzten Chips all-in, steht schon auf und läuft weg vom Tisch, als ihn die Dealerin zurückpfeift. Er hatte eine Straight getroffen, aber es nicht bemerkt. Sie schiebt ihm den Pot zu und er geht die nächste Hand wieder all-in, gewinnt erneut und nachdem er das Ganze noch dreimal zelebriert hat, ist er keine zehn Minuten später plötzlich Chipleader am Tisch. Was für ein Glück, dass ich ihm nicht in die Quere gekommen bin und der Berg an Chips vor mir immer noch Realität ist.

Dann kommt die scheinbar unausweichliche Konfrontation: Ich sitze am Cut off mit :6x :6x :3x :3x , der Button ist short stacked und raist sich selbst mit 1.300 all-in. 4 Leute callen, darunter auch mein neuer Freund und ich. Der Flop bringt :6h :5h :5c . Ich habe das Nuts Full House geflopt und mit heimlicher Freude bemerke ich, wie der erste Spieler 400 in den Pot von knapp 7.000 anspielt. Der Junge neben mir greift wahllos in seine Chips, wirft einen Stapel Tausender in die Mitte und knurrt Raise. Ich lasse mir Zeit für meinen Move, bevor ich mit einer einzigen, ruhigen Bewegung hinter meine Chips lange und sie mit den Worten all-in in die Mitte schiebe. Der Button ist all-in, der ursprüngliche Anspieler foldet, aber mein rechter Nachbar braucht keine 10 Sekunden, um mit den Worten „na und, dann bin ich eben weg“ die fast 20.000 nachzuzahlen. Er sagt zu mir: „Ich habe Flushdraw“ und dreht :Ah :Jh :Jd :2c um. Keine 15 Minuten vorher habe ich ihm ausgiebig erklärt, dass es im Omaha ziemlich hirnrissig ist, mit einem Flushdraw seine Chips in die Mitte zu werfen, wenn im Board schon ein Paar liegt und die Action mit Raise und Reraise ankommt. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass der all-in short Stack selbst den :Js in der Hand hat. Aber es gibt ja noch den :Jc und der erscheint selbstverständlich am Turn. Er hat in dieser Hand so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann, die Chips wandern trotzdem zu ihm und ich trolle mich davon. Better be lucky than good!!!

Diese Story hat sich während der vergangenen Woche in allen erdenklichen Variationen immer wieder so zugetragen, bis ich am letzten Tag des Festivals in einer Omaha Cashgame Partie mit 10/10 Blinds Platz nehme.
Die Action ist ausgezeichnet, kaum einer sitzt mit weniger als 2.000 Euro da, einige haben über 10.000 Euro vor sich liegen. Kaum eine Hand geht preflop ohne Raise über die Bühne und so lockere ich ebenfalls ein wenig meine Qualitätsanforderungen an die Starthände. Omaha ist ein Flopspiel! So entschließe ich mich auch gegen alle Vernunft, ein preflop Reraise mit :Ac :Kd :Tc :3h nachzuzahlen. Vier Leute schauen sich den Flop an, mein As ist vermutlich tot, da ich mit hoher Sicherheit gegen As As und viele Highcards spiele. Im Flop kommt :Kh :7s :4s. Alle checken zum ursprünglichen Reraiser, der geht mit etwa 2.000 Euro all-in, ein weiterer Spieler schiebt ebenfalls über 2.000 in die Mitte. Eigentlich müsste ich folden, Toppaar mit Topkicker ohne Flushdraw ist bei weitem zu dünn bei dieser Historie und Action. Aber der Dämon namens Gier auf meiner Schulter flüstert mir zu:

„Call, die 8.000 Euro im Pot sollen dir gehören!“

So schiebe ich ziemlich hirnrissig ebenfalls meine Chips in die Mitte. Und siehe da, das Wunder geschieht. Zuerst taucht eine :Tx am Turn auf, dann noch ein :Kx am River und ich halte die stone cold Nuts in Händen. Etwas entgeistert starrt mich der ursprüngliche Reraiser an. Ohne seine Hand wirklich zu zeigen, behauptet er, am Flop ein Set mit Flushdraw getroffen zu haben. Die obligatorische Frage „How could you call that?“ kommt ihm über die Lippen. Ich lächele nur, denke über die Stilblüten der Varianz der vergangenen Tage nach und spontan kommt mir der folgende Satz in den Sinn: „Better be lucky than good!“ In diesem Sinne: Ship it!

Euer Michael von free-888.com