Das russische Roulett dreht sich immer schneller

Die im Westen gebräuliche Redewendung „russisches Roulett“ wird in Russland selbst im Sinne eines fatalen Spiels mit dem eigenen Leben kaum gebraucht. Von Glücksspielen, einschließlich des Rouletts, spricht man in den letzten Tagen auch in höheren Kreisen.

Die Staatsduma hat soeben in zweiter Lesung ein Gesetz über die Glücksspielindustrie gebilligt, mit dem sie versucht, die sich überaus stürmisch entwickelnde Wirtschaftsbranche unter eine zunächst recht zaghafte Kontrolle zu stellen.

In Moskau und in Sankt Petersburg ist die Zahl der Spielcasinos, Säle mit Spielautomaten, Wettunternehmen und sonstigem mehrfach höher als die Zahl der öffentlichen Toiletten. Die Glücksspielindustrie wächst jährlich um 30 bis 50 Prozent. Sie zählt bereits 250 000 Beschäftigte – in Großbritannien etwa, das sich für langjährige und edle Spielbank-Traditionen rühmt, sind lediglich 150 000 Arbeitnehmer in dieser Branche beschäftigt. 70 Prozent der Angestellten dieser Einrichtungen in Russland – von Managern bis hin zu Croupiers – können bemerkenswerterweise einen Hochschulabschluss vorweisen.

Die Attraktivität dieser Betätigung lässt sich nicht nur dadurch erklären, dass es sich dabei um etwas Neues handelt, dazu noch um eine seinerzeit verbotene Frucht, die man früher nur als ein Element des verurteilungswürdigen westlichen Lebensstils angesehen hat. Die Psychologen kennen auch das Phänomen, bei dem die Menschen in der Zeit eines Zusammenbruchs gewohnter Lebensumstände und bei Zukunftsängsten häufig Opfer verschiedener verderblicher Leidenschaften werden. Alkoholiker trinken umso mehr, Raucher rauchen umso intensiver – und die Spieler erstürmen umso erbitterter die Spielhöhlen.

Auch das in den letzten 15 Jahren entstandene nie dagewesene soziale Gefälle, mit dem Russland in zwei ungleiche Teile zerschnitten wurde, hat eine Rolle gespielt. Eine kleine Gruppe von Neureichen sucht wie besessen nach Möglichkeiten, einen maximalen Genuss aus dem plötzlich – und recht oft rechtswidrig – erworbenen maßlosen Kapital zu bekommen.

Bogdan Charkowski, Marketologe aus dem Sankt Petersburger Casino-Klub „Olympia“, spricht über seine Kunden mit Entzücken: „Unsere Besucher sind so reich, dass für sie einige hunderttausend Dollar mehr oder weniger gar nichts bedeuten. Sie haben sich die Prinzipien der Verwaltung der Geldenergie angeeignet.“ Wahrscheinlich begreifen auch die restlichen Einwohner Russlands diese Verwaltungsprinzipien, mit der Geldenergie haben sie allerdings große Probleme. Laut offiziellen Angaben leben 28 Millionen Bürger Russlands unterhalb der Armutsgrenze. Gerade dieser Umstand stimuliert sie aber paradoxerweise, zumindest theoretisch, wenigstens für eine Nacht zu Kunden von Bogdan Charkowski und Konsorten zu werden. Wenn die Menschen kein Geld haben, greifen sie umso verzweifelter nach trügerischen Hoffnungsspendern wie Roulett, Lotto usw.

Vorerst nehmen Russlands Behörden den Glücksspielboom mit Begeisterung auf. Der Roulettisch ist zwar kein Ölbohrturm, für den Staatshaushalt ist er aber durchaus einträglich. Jährlich bekommt die Staatskasse Steuern von der Glücksspielindustrie in Höhe von mehr als zwei Milliarden Rubel (bzw. 700 Millionen Dollar). Dies ist umso erfreulicher, wenn man berücksichtigt, dass dieses Business ausschließlich aus privaten Mitteln und ohne jegliche Beteiligung des Staates aufgebaut wurde.

Bedauerlicherweise ist das vom Parlament gebilligte Gesetz nach allgemeiner Meinung nicht gerade außerordentlich gut gelungen. Es gefällt weder den Behörden der Stadt Moskau, das heute zu einem Mekka der einheimischen Glücksspielindustrie geworden ist, noch – und umso weniger – dem Glücksspielbusiness.

Die Moskauer Stadtväter sind damit nicht zufrieden, dass für die Lizenzerteilung für Casinos und Glücksspielhallen weiterhin das Staatliche Sportkomitee zuständig ist. Diese Institution ist von der Idee her berufen, den gesunden Geist in einem gesunden Körper zu festigen und nicht zweifelhafte menschliche Leidenschaften zu stimulieren. Daraus ergibt sich die Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen die Abneigung der Beamten des Staatlichen Sportkomitees zur wichtigen Funktion der Lizenzerteilung. Daraus entsteht die Gefahr, dass die Lizenzen von den nicht gerade loyalsten Geschäftemachern missbraucht werden könnten.

Valeri Iwanow, einer der Leiter der für das Glücksspielgeschäft zuständigen Kommission in der Moskauer Stadtadministration, äußert seine Empörung: Das Staatliche Sportkomitee hat zwar innerhalb von zwei Jahren 4200 Lizenzen für die Einrichtung von Spielhöhlen in der Hauptstadt erteilt, sich aber von einer Kontrolle über deren Tätigkeit völlig distanziert. „Es wurden so gut wie keine Inspektionen vorgenommen“, stellt er fest. „Wir würden es aber wünschen, dass das Organ, das die Lizenz erteilt, an diesem Prozess teilnimmt.“ Was die Geschäftsleute selbst anbelangt, so erscheint ihnen das Gesetz viel zu hart, nahezu drakonisch. Insofern müsste es dringend revidiert werden. Kein einziges Kleinunternehmen in der Größe eines Dorfklubs mit zwei bis drei Spielautomaten wäre in der Lage, alle darin verankerten Bedingungen zu erfüllen. Als Folge entsteht die Unzufriedenheit, die einige Aktivisten sogar dazu bewogen hat, sich bei Präsident Wladimir Putin schriftlich zu beklagen. Das Wesen ihrer Botschaft: Das neue Gesetz ziele auf die Vernichtung einer normalen Konkurrenz ab und monopolisiere diese Sphäre der Geschäftstätigkeit im Interesse von drei bis vier Unternehmen.

Es gibt aber auch eine erfreuliche Nachricht. Trotz der Schwierigkeiten, mit denen die Entwicklung dieser Branche verbunden ist, nimmt das Glücksspielbusiness in Russland Formen einer legitimen und durchaus anständigen Unterhaltungsindustrie neben Tourismus, Filmverleih und Vergnügungsparks an. Mit seiner Legalisierung wird das Glücksspiel sicherer für die Gesellschaft und einträglicher für den Staat.

Es werden aber offenbar noch viele Jahre vergehen, bis man in Russland keine Euphorie mehr über die üppigen Steuersummen empfindet und auf andere Zahlen aufmerksam wird, die in den USA bereits registriert wurden: Die Zahl der Pleiten erhöht sich in einem Radius von 35 Meilen um ein jedes neues Spielcasino um mehr als ein Drittel, während die Kriminalität um zehn Prozent wächst.

Mehr als die Hälfte der Amerikaner billigen die Legalisierung des Glücksspielgeschäfts nicht mehr. Sie sehen darin eine psychologische Falle für die menschliche Seele, vergleichbar mit der Rauschgiftsucht. Im US-Bundesstaat Tennessee wurden die Casinos vollständig verboten, in Alabama wurde die Eröffnung neuer Casinos untersagt. Die Heimat von Fjodor Dostojewski, der für seine beeindruckende Untersuchung der Glücksspielpsychologie berühmt wurde, wird noch den Weg vom Glücksspielboom zur Offensive dagegen zurücklegen müssen. (Wladimir Simonow, Korrespondent der RIA „Nowosti“)