Tim Vance – Pokerproll oder Kartenkünstler?

Schwer atmend steht der nicht sehr groß gewachsene, leicht untersetzte Mann mit der roten Mütze vor dem Eingang des SAS Radisson Hotels in Kopenhagen und raucht während der 15-minütigen Turnierpause bereits seine zweite Zigarette. „Ob ich nervös bin? Ich hyperventiliere!“ Der Mann heißt Timothy Vance und er erlebt gerade die bedeutsamsten Tage seines Lebens. Mit 10.000 Frequent Player Points von seinem PokerStars-Account hatte sich der 46-jährige Amerikaner in ein Satellite-Turnier eingekauft und prompt einen Platz bei den EPT Scandinavian Open in der dänischen Haupstadt gewonnen. Dass er sich dort gegen die starke internationale Konkurrenz durchsetzen würde, stand für den nicht gerade an Minderwertigkeitskomplexen leidenden Chef einer Baufirma in St. Louis (US-Bundesstaat Missouri) nicht einmal annähernd in Frage. „Ich MUSS und werde das Ding gewinnen. Ich hab’s meiner Tochter versprochen“, erzählte er bereits an Tag drei jedem, der es hören wollte, aber auch denen, die es nicht hören wollten. „Sie hat sich nämlich zwei Ponys gewünscht, eines in rosa und eines in pink.“ Die Kleine namens Nanzi ist Tims Ein und Alles. In seiner Base-Cap trägt er zwei völlig zerknitterte Fotos der Dreijährigen, die bei den Großeltern in Missouri mit dem Daddy mitfiebert. Sobald Tim eine Fernsehkamera auf sich gerichtet spürt, versäumt er keine Gelegenheit, dem Nachwuchs ein Kusshändchen zuzuwerfen.

Irgendwie macht Tim den Eindruck, als sei er zufällig in eine Zeitmaschine geraten, die ihn direkt aus den verräucherten Saloons des Wilden Westens des 19. Jahrhunderts in die dänische Gegenwart katapultiert hat. Sein verwaschener Kaugummi-Akzent, den er mit krächzender Stimme durch die Gegend bellt, sein rabauziger Umgang mit der internationalen Presse, sein vierschrötiges Benehmen am Pokertisch – der typisch amerikanische Pokerproll, sagen die einen und drehen leicht angewidert ab. Die anderen sind froh, dass da endlich mal wieder einer ist, der ein bisschen Exzentrik an den Tag legt, in der – erst recht in Kopenhagen – von nüchternen Pokerfaces dominierten Branche.

Ein Mann, offenbar nicht ohne „Vergangenheit“: „Überall muss ich lesen, dass ich aus Dupo/Illinois bin. Hört endlich auf, dieses Sch…kaff zu erwähnen. O.k., ich wurde dort geboren, aber ich habe dort mein halbes Leben lang nichts als Ärger mit der Polizei gehabt.“ Warum denn das, möchte ich wissen, aber Tim macht nur eine abwertende Handbewegung, dreht sich um und spuckt aus. Möglicherweise hingen seine Schwierigkeiten mit jenem Pokerspiel zusammen, das er – so die Ansage – schon „sein ganzes Leben lang“ betreibt.

Tim tritt auf dem Marmorboden vor dem Nobelhotel seine Kippe aus und stürmt in den Turniersaal. Dort angekommen arbeitet er fleißig weiter an seinem Image als „bad guy“. Er rauscht durch den Raum, spielt überwiegend im Stehen, er quasselt unentwegt. Oder er singt: „I want you – I want you soooo baaaahaahad“ – ein paar Dutzend Mal müssen sich die zusehends entnervten Mitspieler den uralten Beatles-Song vom Album „Abbey Road“ anhören. Aber wenn Tim Poker spielt, ist er voll präsent. Manchmal quatscht er während einer Hand minutenlang seine Gegner voll, bombardiert sie mit Fragen. Alles, was ihm unter der Baseballkappe durch den Kopf schießt, entweicht sofort knarzig der Öffnung zwischen dem fusseligen Vollbart.

So hält er es auch in jener Hand, die ihn am Ende als Chipleader an den Finaltisch bringt. Der Däne Kristian Pedersen wird davon mit Sicherheit noch einige Zeit schlecht träumen. „Du hast doch höchstens Ace-King“, schwätzt der Amerikaner immer wieder auf seinen wie ein Ölgötz schweigend ausharrenden Kontrahenten ein, als der nach einem Flop mit [Jack] [Queen] [Six] all-in gegangen war und dadurch einen echten Monsterpot generiert hatte. Minutenlang wandert Tim aufgeregt durch den Saal, dann bleibt er wieder stehen und starrt den Dänen durch seine blickdichte Sonnenbrille an. Dann sagt er plötzlich „Okay Sir, I’ll call you“, dreht [Nine] [Nine] um und macht einen Luftsprung, als Pedersen tatsächlich nur [Ace] [King] zeigt. Die Beobachter im Saal und im Pressezentrum sind sich einig: Dieser Read war einfach erstklassig!

Als Vance am Final Table seine Zermürbungstaktik fortsetzt und dazu übergeht, praktisch nur noch im Stehen zu spielen, handelt er sich einen schweren Rüffel vom wie gewohnt traumwandlerisch souverän agierenden Turnierdirektor Thomas Kremser ein: „Wenn Sie eine Hand spielen wollen, dann machen Sie das bitte im Sitzen.“ Wie ein geprügelter Hund zeigt Timmy jetzt seine andere Seite. Für eine bemerkenswert lange Zeit bleibt er auf seinen vier Buchstaben sitzen, stellt das Reden und sogar das Singen ein. Auf diese Weise übersteht er auch seine kleine Schwächeperiode, als er plötzlich den Chiplead verloren hat, sich ihn aber mit einem geschickten Move schnell wieder zurückholt. Danach „schwitzt“ er sich zäh und kontinuierlich ins Heads-up.

Der Rest ist jedem Interessierten bekannt: Fast viereinhalb Stunden lang dauerte der Kleinkrieg zwischen Vance und dem Dänen Sören Jensen und Tim Vance bewies, dass er ein sehr geduldiger Spieler mit einer enormen Menge Sitzfleisch sein kann – auch wenn er zwischendurch immer mal wieder aufstand … Dass die weltweite Onlinegemeinde vermutlich während des Live-Streams eingenickt ist, war Vance sicher piepegal.

Denn seine Geduld hat sich für den 46-Jährigen immens ausgezahlt. Rund €835.000 für einen Onlinequalifikanten – ein modernes Pokermärchen ist in Kopenhagen wahr geworden. Die dreijährige Nanzi darf sich über zwei kreischbunte Ponys freuen und der Rest der Welt bleibt gespalten: Die einen freuen sich darauf, den verrückten Ami beim EPT-Event in Monte Carlo wiederzusehen, die anderen verdrehen die Augen und wenden sich mit Grausen ab.