Das Kasino prägt das Dorf Campione d’Italia am Luganersee – in der Blüte wie in der Krise. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Das Kasino prägt das Dorf Campione d’Italia am Luganersee – in der Blüte wie in der Krise. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

«Campione liegt am Boden, uns fehlt das tägliche Brot»

Die Exklave Campione d’Italia am Luganersee lebt von ihrem Spielkasino. Aber dieses musste seine Tore schliessen. Nun steht die Gemeinde vor dem Kollaps.

Peter Jankovsky, Campione d’Italia
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Man sieht sie schon von weitem, die «Stimmgabel». So nennen manche das vom Tessiner Stararchitekten Mario Botta 2006 neu erbaute Spielkasino von Campione d’Italia. In der Tat ähnelt der Haupttrakt des gigantischen Gebäudes am Luganersee einer Stimmgabel. Schon rein vom Anblick her schenkt man der gängigen Ansicht gerne Glauben, das Glücksspielhaus der italienischen Exklave sei das grösste Europas.

Campione hat einen Quadratkilometer Landfläche und liegt innerhalb des Schweizer Zollgebiets. Daher haben die Autos Tessiner Nummernschilder, man bezahlt in Franken, kann auf der italienischen Post Dienstleistungen der Schweizerischen Post in Anspruch nehmen, und die Festnetz-Telefone betreut die Swisscom. Sogar die wenigen Wanderweg-Schilder Campiones sind im charakteristischen Schweizer Design gehalten. Und natürlich gelten für den Campione-Bus Halbtax und GA.

Gemeindefinanzen in Schieflage

«Ohne das Kasino ist das Dorf tot», bemerkt der Buschauffeur, als er um das riesige futuristische Gebäude herumkurvt. Die Spielbank sei praktisch die einzige Einnahmequelle der 2000-Seelen-Gemeinde. Daher lägen die Nerven der Einwohner blank, nachdem Ende Juli drei Gerichtsvollzieher der Provinz Como aufgetaucht seien, die Spieler und Angestellten nach draussen gebeten und anschliessend alle Kasinoeingänge versiegelt hätten.

Das gemeindeeigene «Casinò Municipale» ist nämlich pleite. Es hat einen Schuldenberg von 157,5 Millionen Franken angehäuft und weist ein Defizit von 39 Millionen auf. Also kann das Kasino weder die Löhne der Angestellten zahlen noch der Gemeinde deren Anteil am Jahresumsatz überweisen. Die gegenwärtigen Schulden der Spielstätte bei ihrer Besitzerin belaufen sich auf 44 Millionen Franken – Gelder, ohne welche die Gemeinde in extreme Schieflage geraten ist. Insgesamt generierte das Kasino nach Ansicht des Verwaltungsgerichts in Como zu wenig Geld, um das Funktionieren der Gemeinde zu sichern. Also liess das Gericht das Kasino schliessen.

Mit einem Ruck hält der Bus auf dem zentralen Parkplatz zwischen Seeufer und Kasino. Eine Handvoll Touristen steht herum, überrumpelt von der Spielbankschliessung. Am Kasinogebäude und an anderen Stellen hängen selbstgebastelte Spruchbänder der empörten Angestellten. Vor dem Gemeindehaus stechen einige Zelte mit Info- und Essensständen ins Auge: Seit der Schliessung halten hier die Kasinomitarbeiter jeden Tag eine Mahnwache.

Noble Ausstattung

Gleich findet eine Medienkonferenz des Bürgermeisters im Gemeindehaus statt. Dieses verfügt über eine noble Innenausstattung, wobei vor allem die weichen Sessel und Sitze auffallen, deren Lederbezug edel knirscht. Man ahnt, dass die goldenen Zeiten, als das Campioneser Glücksspielhaus 180 Millionen Franken pro Jahr einnahm, nicht so weit zurückliegen. Und noch letztes Jahr belief sich der Umsatz auf 102 Millionen.

Die goldenen Zeiten währten lange. Campiones Kasino wurde 1917 eröffnet, um zockenden ausländischen Diplomaten militärische Geheimnisse zu entlocken. Bereits zwei Jahre später schloss die Spielbank wegen eines zeitweiligen Glücksspielverbots ihre Tore, die Mussolini 1933 aber wieder öffnete – er wollte Campione zu einem wirtschaftlichen Musterdorf machen. Seit dieser Zeit lebte die Exklave am Luganersee von ihrem Kasino und galt bis anhin als eine der reichsten Gemeinden Italiens.

«Campione liegt am Boden, uns fehlt das tägliche Brot», ruft Bürgermeister Roberto Salmoiraghi aus. Bald nach Beginn der Pressekonferenz redet er sich in Rage, empört sich über die höchsten Behörden in Rom. Sie haben offenbar bisher alle Protestbriefe und die vier offiziellen Rekurse gegen die Schliessung schlichtweg ignoriert.

Salmoiraghi erklärt dies damit, dass im klassischen Ferienmonat August keine italienische Behörde wirklich aktiv sei. Und dann habe sich noch der Brückeneinsturz von Genua ereignet. «Lasst uns endlich alle an einen Tisch sitzen», lautet der Appell des Sindaco an Lega-Innenminister Matteo Salvini. Dessen Departement führt die Aufsicht über die vier italienischen Spielkasinos in Campione, Sanremo, Venedig und Saint-Vincent im Aostatal.

Ungünstiger Wechselkurs

Das anschliessende Gespräch mit der NZZ lässt Salmoiraghi in seinem Büro stattfinden. Dort stechen Möbelstücke und Porträtgemälde aus früheren Jahrhunderten ins Auge. Die Gründe für den Kasinokonkurs? Da in seiner Gemeinde die Bezahlwährung der Franken ist, die Einnahmen aus den Glücksspielen aber in Euro erwirtschaftet werden, leide das Unternehmen unter dem ungünstigen Wechselkurs, erklärt Salmoiraghi.

Dann kritisiert der Sindaco die abgesetzte Kasinodirektion. Sie habe notwendige Innovationen wie die Einrichtung eigener Online-Spiele und eigener kleiner Spielsäle mit Slot-Machines im italienischen Mutterland verschlafen. Zudem habe sie geduldet, dass ein Teil der Kasinoangestellten vielleicht zu viel bezahlte Ferien genommen habe. In Salmoiraghis Augen trägt auch die vorherige Gemeindeexekutive eine grosse Verantwortung, indem sie die Spielbank-Direktion zu wenig kontrolliert und die eigenen Betriebskosten nicht gesenkt habe. Campiones Sindaco, der in Lugano eine Praxis für innere Medizin führt, ist erst seit Ende März im Amt. Dies allerdings zum zweiten Mal nach längerer Pause.

Nach seiner Wahl musste Salmoiraghi die Sparschraube gewaltig anziehen. Von den 103 Gemeindeangestellten versetzte er 86 in einen potenziellen Entlassungsstatus, und das durchschnittliche Jahressalär von 130 000 Franken senkte der Bürgermeister um 10 Prozent. Ohnehin haben sie alle seit Februar keinen Lohn mehr erhalten – dennoch arbeiten die verbliebenen Gemeindeangestellten weiter, um das Funktionieren Campiones einigermassen zu sichern. Bereits geschlossen werden musste der Kindergarten. Zudem erhalten die Rentner Campiones keinen Zuschuss mehr auf ihre Pension.

Die Kasinoangestellten hatten bereits vor der Schliessung auf 30 Prozent ihres Jahreslohnes verzichtet. Dieser betrug im Schnitt 95 000 Franken. Ziel Salmoiraghis ist es aber, sämtliche Gemeinde- und Kasinolöhne noch weiter abzusenken, und zwar auf das Niveau Luganos, das auch über eine Spielbank verfügt. Mit allen bisherigen Massnahmen habe Campione 36 Millionen Franken einsparen können, viel mehr gehe nicht, betont der Sindaco.

Schmerzhafte Einschnitte

Draussen vor dem Gemeindehaus haben die Kasinoangestellten in den Zeltbuden inzwischen zu Mittag gegessen und sind an einem Gespräch sehr interessiert. Insgesamt sind es 487 Personen, die ihre Arbeit im Kasino verloren haben, und die allermeisten sind Bürger Campiones. 160 von ihnen wohnen aber im Tessin und sind dort versichert. Seine Schweizer Gebäudeversicherung habe ihm wie auch anderen Arbeitskollegen den Vertrag gekündigt, sagt Croupier Paolo Bortoluzzi, der im Vorstand der Kasinogewerkschaft RSU ist und im Tessin ein Eigenheim besitzt. Denn sie alle seien vom Kasinobetrieb nur suspendiert, und dies bedeute, dass sie kein Geld erhielten. Weder vom Spielkasino noch von der Arbeitslosenkasse. Daher würden momentan alle von den eigenen Ersparnissen leben.

Praktisch alle Einwohner Campiones im arbeitsfähigen Alter stehen also ohne Arbeit und die Gemeinde ohne finanzielle Ressourcen da, weil das Kasino geschlossen wurde. Das Roulette-Dorf scheint ausgespielt zu haben – die reiche Exklave steht vor dem Kollaps.

Offenbar gelangen nun viele Campione-Kunden auf die andere Seite des Luganersees. In den letzten Wochen habe man 25 Prozent mehr Eintritte verzeichnet, erklärt Emanuele Stauffer, Verwaltungsratspräsident des Casinò di Lugano. Nach seinen Worten stellen die drei Tessiner Spielkasinos in Lugano, Mendrisio und Locarno eigentlich keine Konkurrenz für Campione dar, weil sie viel kleiner sind und eine andere Klientel haben. Luganos Spielbank beispielsweise generiert nur einen Drittel der Einnahmen Campiones. Zudem herrschen in den Schweizer Kasinos restriktivere Bedingungen. In Campione jedoch wurden in den letzten Jahren alle möglichen legalen Arten von Glücksspielen angeboten, und dort durften sich die Kunden auch verschulden. Trotzdem hatte laut Stauffer Campiones Kasino vor etwa sieben Jahren begonnen, mit aggressiven Marketingmethoden den Spielbanken von Lugano und Mendrisio Kunden abspenstig zu machen. Dies erhöhte zusammen mit der Ausweitung des Angebots die Betriebskosten von Campiones Spielstätte merklich und trug zu deren Verlusten bei.

Was also wäre die Lösung für Campione? Das Kasino müsse sofort wieder seine Tore öffnen, so Gewerkschafter Bortoluzzi. Für ihn gibt es nur zwei Lösungen angesichts des oft widersinnigen italienischen Bürokratie-Dschungels: Entweder erlasse die Römer Zentralregierung ein Dekret zugunsten Campiones, oder das Appellationsgericht in Mailand nehme einen der vier Rekurse gegen die Schliessung an.

Neue Einnahmequellen gesucht

Sindaco Salmoiraghi spricht davon, dass Campiones Zukunft nicht allein vom Glücksspiel abhängen solle. Das Spielkasino müsse unbedingt wieder geöffnet, aber betriebswirtschaftlich redimensioniert sowie mit touristischen Zusatzangeboten kombiniert werden. Und wenn Tessiner Investoren im Botta-Gebäude ein Luxushotel einrichten wollten, wäre dies willkommen. Zusätzlich könnte Campione dank Steuerprivilegien private Firmen anlocken, insbesondere Finanz- und Beratungsunternehmen.

Und was ist mit dem Worst Case? Daran wolle er gar nicht denken, ruft der Sindaco aus. Croupier Bortoluzzi meint: «Ohne Spielkasino müssten wir auswandern.» Sie sei einfach verzweifelt, sagt die Campioneserin und Kasinoangestellte Marina Del Lazzaro, die auch den ganzen Tag in der Mini-Zeltstadt verbringt. Wie die meisten ihrer Kollegen sei sie über vierzig, arbeite seit Jahrzehnten in derselben Firma und habe daher kaum eine Chance auf einen erfolgreichen Stellenwechsel.

Neben Del Lazzaro sitzt Arbeitskollegin Rosi Bianchi von der Gewerkschaft CGIL. Weil sie von der Arbeit lediglich suspendiert worden seien, könnten die Kasinoangestellten nicht auf Jobsuche gehen, so Bianchi. Und auch sonst steckten sie in einer Art Niemandsland fest: Die Italiener sähen die Campionesen als Schweizer und die Tessiner als Italiener an. «Diesmal brauchen wir wirklich Glück in unserem Glücksspielort.»