Notifizierung 2006/658/D – Entwurf eines Staatsvertrags zum Glücksspielwesen in Deutschland.

Am 21. Dezember 2006 hat die Kommission den oben genannten Entwurf eines Staatsvertrags zum Glücksspielwesen erhalten.

Die Prüfung dieses Entwurfs veranlasst die Kommission zur Abgabe der folgenden ausführlichen Stellungnahme, gemäß Artikel 9, Absatz 2, der Richtlinie 98/34/EG, geändert durch die Richtlinie 98/48/EG. Die Kommission beschränkt ihre Reaktion auf diejenigen Bestimmungen des notifizierten Entwurfs, die „Vorschriften betreffend Dienste der Informationsgesellschaft“ im Sinne der Richtlinie 98/34/EG, geändert durch die Richtlinie 98/48/EG, enthalten.

Die nachstehend abgegebene Reaktion der Kommission stellt nicht das Recht Deutschlands auf eine Beschränkung von Glücksspielaktivitäten in Frage, die aufgrund zwingender Erfordernisse im Allgemeininteresse gerechtfertigt sein kann, wie z. B. Verbraucherschutz, Jugendschutz und Bekämpfung von Spielsucht.

Die Kommission muss jedoch im Rahmen dieses Verfahrens sicherstellen, dass gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Glücksspielwesen in dem notifizierten Entwurf die entsprechenden Bestimmungen des EG-Vertrags eingehalten werden. Des Weiteren bedauert die Kommission, dass der Entwurf eines Staatsvertrags nicht durch eine Folgenabschätzung gestützt wurde, die es der Kommission ermöglicht hätte, die Erwägungen zu berücksichtigen, die zu dem in dem Entwurf vorgesehenen Vorgehen geführt haben. Daher erfolgte die Prüfung auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs und auf der Grundlage von Beiträgen, die von Wirtschaftsteilnehmern übermittelt wurden.

Ausführliche Stellungnahme

1) In § 4 Abs. 4 des notifizierten Entwurfs wird Folgendes festgelegt: „Das Veranstalten und das Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet ist verboten.“ Hierdurch wird ein vollständiges Internetverbot für öffentliche Lotterien, Sportwetten und Casinospiele eingeführt, was eine „Vorschrift betreffend Dienste der Informationsgesellschaft“ im Sinne von Artikel 1 der Richtlinie 98/34/EG, geändert durch die Richtlinie 98/48/EG, darstellt.

In den Erläuterungen zu § 4 Abs. 4 heißt es: „Absatz 4 enthält das generelle Verbot der Veranstaltung und Vermittlung öffentlicher Glücksspiele im Internet und erstreckt sich auf alle Arten der im Staatsvertrag geregelten Glücksspiele, insbesondere auf Lotterien, Sportwetten und den Bereich der Spielbanken. Damit wird eine wesentliche Forderung erfüllt, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 28. März 2006 aufgestellt hat. Insbesondere vor dem Hintergrund der rechtlich gebotenen Ausrichtung des Wettangebotes am Ziel der Bekämpfung der Spielsucht hat das BVerfG die Möglichkeit der Wettteilnahme über das Internet als bedenklich angesehen, zumal gerade dieser Vertriebsweg keine effektive Kontrolle des Jugendschutzes gewährleistet. Die Anonymität des Spielenden und das Fehlen jeglicher sozialer Kontrolle lassen es unter dem Aspekt der Vermeidung von Glücksspielsucht als notwendig erscheinen, den Vertriebsweg ‘Internet’ über den Sportwettenbereich hinaus in Frage zu stellen. Zur Sicherstellung der Ziele des § 1 ist es daher geboten, dem Glücksspielbereich den Vertriebsweg ‘Internet’ vollständig zu untersagen. Damit wird zudem eine Forderung der Suchtexperten erfüllt, die ein konsequentes Verbot von Internet-Wetten und Online-Glücksspielen verlangen.“

In § 25 Abs. 6 des notifizierten Entwurfs heißt es, dass die Länder befristet auf ein Jahr nach Inkrafttreten des notifizierten Entwurfs abweichend von § 4 Abs. 4 bei Lotterien die Veranstaltung und Vermittlung im Internet unter bestimmten Bedingungen erlauben können (Ausschluss minderjähriger oder gesperrter Spieler durch Identifizierung und
Authentifizierung, Einsätze von höchstens 1 000 EUR pro Monat, Teilnahme beschränkt auf Personen, die sich im Geltungsbereich der Erlaubnis aufhalten usw.). In den Erläuterungen zu § 25 Abs. 6 wird klargestellt, dass von dieser Übergangsregelung zwei namentlich erwähnte deutsche Unternehmen betroffen sind (das erste, gegründet 1998, mit 140 Mitarbeitern und das zweite, gegründet 2000, mit 151 Mitarbeitern), die im Rahmen des staatlichen Monopols
veranstaltete Glücksspiele fast ausschließlich über das Internet anbieten, und dass das Ziel dieser Übergangszeit darin besteht, den Unternehmen genügend Zeit zu gewähren, um ihr Geschäft auf Vertriebswege umzustellen, die nach dem notifizierten Entwurf gestattet sind. Es ist darauf hinzuweisen, dass die einjährige Aufhebung des Glücksspielverbots im Internet ausschließlich den bestehenden deutschen Betreibern zugute kommt und de facto Betreiber aus anderen Mitgliedstaaten diskriminiert. Soweit § 25 Abs.6 in Verbindung mit den beigefügten Erläuterungen bedeutet, dass nur die beiden in den Erläuterungen namentlich erwähnten Anbieter und kein anderer während der Übergangszeit die Geschäfte weiterführen können, ist diese Vorschrift diskriminierend.

2) Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die einzigen als Einschränkungen von Artikel 49 EG-Vertrag zulässigen nationalen Maßnahmen diejenigen, die:

– nicht diskriminierend sind,

– aus zwingenden Gründen in Bezug auf das Allgemeininteresse gerechtfertigt sind, soweit das betreffende Interesse nicht in dem anderen Mitgliedstaat, in dem der Betreiber seinen Sitz hat, geschützt ist; und

– die zum Erreichen der Ziele, auf die sich der betreffende Mitgliedstaat beruft, geeignet sind und nicht über das hinausgehen, was zum Erreichen dieser Ziele erforderlich ist. Diese Einschränkungen müssen in jedem Fall diskriminierungsfrei angewendet werden (Urteil des Gerichtshofs vom 6. März 2007 in den verbundenen Rechtssachen C-338/04, C-359/04 und C-360/04, Placanica, Rn. 49).

Die deutschen Behörden machen geltend , dass das vollständige Verbot von Lotterien und Sportwetten im Internet aus dem zwingenden Grund des Allgemeininteresses bezüglich der Bekämpfung der Spielsucht und der Sicherstellung einer wirksamen Kontrolle und eines wirksamen Jugend- und Spielerschutzes gerechtfertigt sein kann (siehe § 1 des Entwurfs eines Staatsvertrags, in dem die Ziele dieses Vertrags dargelegt werden). Obwohl die Bekämpfung der Spielsucht und der Jugendschutz zwingende Gründe des öffentlichen Interesses darstellen, die Einschränkungen der Ausübung einer Grundfreiheit gemäß des EG-Vertrages rechtfertigen könnten, ist die Kommission der Ansicht, dass das vollständige Verbot von Lotterien und Sportwetten im Internet aus den unten genannten Gründen keine geeignete Maßnahme zum Erreichen der Ziele der Spielsuchtbekämpfung und des Jugendschutzes sein könnte und dass es als unverhältnismäßig eingestuft werden könnte, da es weniger einschränkende Maßnahmen zum Erreichen der oben genannten Ziele gibt.

2.1 Die Erläuterungen des notifizierten Entwurfs erhalten keine Daten zur Unterstützung der Erklärungen, dass eine tatsächliche Gefahr der Spielsucht im Internet in Deutschland vorliegt, die eine Bedrohung eines grundlegenden Interesses der deutschen Öffentlichkeit darstellt und es wurden keine Folgenabschätzung oder Studien zum Nachweis dieser Tatsache vorgelegt. Es ist festzustellen, dass den Gründen, auf die sich Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung berufen, eine Analyse der Zweckdienlichkeit und der Verhältnismäßigkeit der von dem Staat verabschiedeten einschränkenden Maßnahme beigefügt werden muss, in der statistische oder andere Belege offenbart werden müssen, die jegliche Schlussfolgerungen hinsichtlich des Ausmaßes der Gefahr im Zusammenhang mit Glücksspielen zulassen (siehe Urteil des Gerichtshofs vom 13. November 2003, Rechtssache C-42/02, Lindman, Slg. 2003 I-3519, Rn. 25 und 26).

2.2 Zweitens, weist nichts in dem notifizierten Entwurf auf dessen Folgerichtigkeit im Hinblick auf seine Angemessenheit zur Erreichung des verfolgten Ziels hin, da er auf Lotterien und Sportwetten Anwendung findet, nicht aber auf Glücksspiele, die eine viel höhere Gefahr der Spielsucht aufweisen. So werden zum Beispiel Glücksspiele mit einem hohen Suchtpotential, wie Glücksspielautomaten oder Pferdewetten nicht von dem Verbot abgedeckt.

2.3 Drittens gibt es weniger einschränkende Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht und zum Schutz von Jugendlichen, z. B. eine zwingende vorherigen Registrierung mit strikten Auflagen der korrekten Identifizierung des Spielers und seines Alters und durch die Auflage von Begrenzungen der Spieleinsätze.

In den Erläuterungen zu § 4 Abs. 4 heißt es: „Die Anonymität des Spielenden und das Fehlen jeglicher sozialen Kontrolle lassen es unter dem Aspekt der Vermeidung von Glücksspielsucht als notwendig erscheinen, den Vertriebsweg ‘Internet’ über den Sportwettenbereich hinaus in Frage zu stellen.“ Daraus lässt sich ableiten, dass den deutschen Behörden zufolge das Glücksspiel im Internet mit der Anonymität des Spielers, dem Fehlen jeglicher sozialen Kontrolle und unzureichendem Schutz von Minderjährigen verbunden ist. Die der Kommission zugegangenen Informationen widersprechen diesen Erklärungen. Im aktuellen Internetangebot des staatlichen Monopolsystems müssen sich Spieler mit ihrem Namen, ihrer Adresse und ihrem Alter registrieren. Die Adresse wird bei der Deutschen Post und das Alter bei der SCHUFA, einer zentralen Organisation, die Kredit- und Bankinformationen eines weiten Teils der deutschen Bevölkerung hält, geprüft. Spieler müssen sich bei jeder Spielsitzung anmelden. Es gibt Begrenzungen der Gesamtbeträge, die ein Spieler pro Woche einsetzen kann. Spieler müssen im Voraus über ein bestimmtes Konto bezahlen, und Spielen auf Kredit ist ausgeschlossen. Entsprechend gibt es keine Anonymität, und der Schutz von Minderjährigen wird gewährleistet.

Die Anforderungen des notifizierten Entwurfs nach dem Schutz der Spieler – wie z. B. die Umsetzung eines sozialen Programms seitens der Betreiber (§ 6 des notifizierten Entwurfs), Erfüllung der Informationsanforderungen durch die Betreiber (§ 7 des notifizierten Entwurfs) und die Verpflichtung der Betreiber zur Teilnahme an einer zentralen Datei, in der alle gesperrten Spielsüchtigen geführt werden (§ 8 des notifizierten Entwurfs) – können alle von Internetbetreibern erfüllt werden.

Angesichts der obigen Ausführungen, gibt die Kommission die vorliegende ausführliche Stellungnahme nach Artikel 9, Absatz 2, der Richtlinie 98/34/EG ab und bittet die deutschen Behörden um eine Überprüfung von § 4 Abs. 4 des notifizierten Entwurfs des Staatsvertrags, der in seiner gegenwärtigen Form und auf der Grundlage der übermittelten Informationen nicht mit Artikel 49 EG-Vertrag in der Auslegung der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar zu sein scheint.

Die Kommission erinnert die deutschen Behörden daran, dass die Abgabe einer ausführlichenStellungnahme, nach Artikel 9, Absatz 2, der Richtlinie 98/34/EG, den betroffenen Mitgliedsstaat verpflichtet, den in Frage stehenden Regelungsentwurf nicht vor Ablauf von vier Monaten nach seiner Übermittlung an die Kommission anzunehmen.

Die Frist läuft demnach am 23. April 2007 ab.

Die Kommission weist die deutschen Behörden darauf hin, dass der Mitgliedsstaat, an den dieausführliche Stellungnahme gerichtet wurde, nach dieser Bestimmung ebenfalls verpflichtet ist, die Kommission über die von ihm beabsichtigten Folgemaßnahmen zu informieren. Sollte der betreffende Regelungsentwurf ohne Berücksichtigung der oben genannten Ausführungen in Kraft gesetzt werden, könnte sich die Kommission zur Übersendung eines Mahnschreibens gemäß Artikel 226 EG-Vertrag gezwungen sehen. Sie behält sich die Möglichkeit zur Übersendung eines Mahnschreibens auch für den Fall vor, dass ihr die Antwort der deutschen Behörden zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des in Frage stehenden Regelungsentwurfs noch nicht zugegangen ist.

Die Kommission fordert die deutschen Behörden auf, ihr den endgültigen Wortlaut des Regelungsentwurfs unverzüglich nach seiner Annahme mitzuteilen. Die Nichtübermittlung dieses Wortlauts würde eine Verletzung des Artikels 10 EG-Vertrag und des Artikels 8, Absatz 3, der Richtlinie 98/34/EG darstellen, der nachzugehen sich die Kommission vorbehielte.

Zu den anderen Bestimmungen, die einen wesentlichen Teil des notifizierten Entwurfs darstellen, die jedoch per se nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/34/EG geändert durch die Richtlinie 98/48/EG fallen, werden sich die Dienststellen der Kommission zu einem späteren Zeitpunkt nach weiterer Prüfung der Frage der Verhältnismäßigkeit äußern und die deutschen Behörden in Kenntnis setzen.

Genehmigen Sie, Herr Bundesminister, den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung.

Günter Verheugen – Vizepräsident.

Dirk Hundertmark
Pressesprecher der
CDU-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein
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