Glücksspiel: Im Handumdrehen

Die Geschichte hat, das ist ja bekannt, auch ihre ironischen Seiten: Poker, das alte Cowboyspiel, das im New Orleans des frühen 19. Jahrhunderts entstand, sich dann den Mississippi hinauf und weiter im ganzen Land verbreitete und in den Frontstädten und Goldgräbercamps des Wilden Westens zur Hochblüte kam, erlebt zu Beginn des 21. Jahrhunderts den größten Boom seiner Geschichte. Und eines seiner Zentren hat dieser Boom, ausgerechnet, in einem Indianerreservat: Gut zehn Kilometer südlich von Montreal, am St. Lawrence River, liegt Kahnawake, ein autonomes Mohikanerterritorium, etwas über 48 Quadratkilometer groß und Geschäftssitz von Mohawk Internet Technologies (MIT). Über die tausenden Server, welche die Hallen des Unternehmens füllen, wird ein Großteil des Online-Poker-Verkehrs Nordamerikas (sowie eines Gutteils der Restwelt) abgewickelt. Aus einem einfachen Grund: Die strengen nordamerikanischen Online-Glücksspielgesetze gelten hier nicht. Dementsprechend groß ist das Transaktionsvolumen, und es steigt beständig: Im Vorjahr wurden in Online-Pokerkasinos, so schätzt das Marktforschungsunternehmen Research & Markets, weltweit rund 60 Milliarden Dollar verwettet. Das sind 164 Millionen pro Tag, fast sieben Millionen pro Stunde. Für das Jahr 2008 rechnen die Marktforscher mit einem Wettvolumen von 215 Milliarden Dollar.

Pokerprofis. Auch Markus Golser, 33 Jahre alt, gebürtiger Salzburger, ehemals Handelsreisender, setzt sein Geld bevorzugt im Internet. Meistens auf vier virtuellen Tischen gleichzeitig, weil es sonst ja auch langweilig wäre. Golser ist schließlich kein Anfänger. Mit 17 begann er, zunächst hobbymäßig, zu pokern. Mit 21 sagte er seinem Brotberuf Adieu und lebt seither vom Kartenspiel – und nicht einmal schlecht, wie er glaubhaft versichert. Als einer von rund 100 österreichischen Pokerprofis (die diesbezüglichen Schätzungen variieren teils deutlich, weil sich nur wenige Spieler dezidiert als Profis outen wollen) verbringt er gut drei Monate im Jahr bei internationalen Pokerturnieren, den Rest der Zeit spielt er in heimischen Kasinos und online. Den gegenwärtigen, per Internet potenzierten Pokerboom sieht er noch lange nicht am Höhepunkt: „Das ist erst der Anfang. Poker ist nicht mehr aufzuhalten.“

Womit er Recht haben könnte.

Poker, das übel beleumundete Spiel, das immer noch gern mit zwielichtigen Gestalten, rauchverhangenen Hinterzimmern und stets einsatzbereiten Klappmessern assoziiert wird, ist im Begriff, im Mainstream anzukommen: Schon im Mai vorigen Jahres ergab eine Umfrage des US-Marktforschungsinstituts SRBI, dass 47 Prozent aller Amerikaner zwischen 12 und 55 Jahren bereits regelmäßig Poker spielen. 26 Prozent davon hatten das Spiel erst im Jahr davor für sich entdeckt. In Europa zeichnet sich, etwas verhaltener zwar, aber doch deutlich spürbar, ganz Ähnliches ab. „Das schmutzige Image ist weg“, meint Leo Wallner, Chef der Casinos Austria, die heute bereits 30 Prozent ihres Online-Umsatzes aus Pokerspielen lukrieren.

Der Auslöser dieser bemerkenswerten Entwicklung hat einen Namen: Steve Lipscomb. Im März 2003 rief der amerikanische TV-Produzent die World Poker Tour ins Leben, eine hoch dotierte Pokerliga, erschaffen einzig aus dem Grund, Poker im TV-Programm zu etablieren. Was überraschend schnell gelang: Die großen US-Sportsender wie ESPN widmen dem Kartenspiel ganze Sendeflächen, und auch hierzulande werden – via Eurosport, DSF und Das Vierte – praktisch täglich Turniere übertragen. Nicht, dass Fernsehpokern früher unbekannt gewesen wäre. Doch Lipscomb führte eine simple, aber entscheidende Neuerung ein – so genannte Pocket Cameras, mittels derer die Zuseher den Spielern in die Karten sehen können. Weil damit endlich klar wurde, wer blufft und wer nicht, mutierte das semimeditative Beobachten ausdrucksarmer Pokerfaces schlagartig zum Psychodrama, damit zwangsläufig auch zum Publikumshit und, nicht zu vergessen: zur Reality Show.

Schließlich kann, rein potenziell, jeder TV-Zuschauer auch selbst mitspielen, mitgewinnen und zum Pokerstar werden. So wie jener 28-jährige Buchhalter aus Tennessee, der 2003 das renommierteste Pokerturnier der Welt, die World Series of Poker in Las Vegas, für sich entschied – und dabei ein Preisgeld von 2,5 Millionen Dollar einstreifte. Seitdem zählt Chris Moneymaker (kein Künstlername) zu den Superstars der Branche. Qualifiziert hatte er sich – mit einem Einsatz von 39 Dollar – in einem Internetkasino. Als auch im Jahr darauf ein Online-Qualifikant namens Greg Raymer, Patentanwalt aus Connecticut, das Turnier gewann (und dabei bereits auf ein Preisgeld von fünf Millionen Dollar kam), brachen alle Dämme: Die Online-Kasinos wurden von Möchtegern-Pokerstars geradezu gestürmt. Was die Preisgelder der großen Turniere weiter in die Höhe trieb (der diesjährige World-Series-Gewinner Jamie Gold, ein kalifornischer TV-Produzent, durfte sich über atemberaubende zwölf Millionen Dollar freuen) und zugleich eine neue Generation von Pokerspielern hervorbrachte.

HipHop-Uniform. Die alte Garde der cowboystiefelbewehrten, starräugigen Zocker sah sich plötzlich mit jungen, unerhört aggressiv spielenden Gegnern konfrontiert, die Poker im Internet gelernt hatten und ihm ganz neue, durchaus auch telegene Facetten hinzufügten – Spielern wie Phil Ivey etwa, der bevorzugt mit iPod und in HipHop-Uniform antritt, allein bei Turnieren bereits über sieben Millionen Dollar verdient hat (von seinen Online-Einkünften ganz zu schweigen) und einem dementsprechend opulenten Lebenswandel huldigt. Bei launigen Golfpartien mit Pokerkollegen pflegt er, so erzählt man, pro Loch 10.000 Dollar zu wetten.

„Als Pokerspieler sollte man dem Geld nicht allzu viel Wert beimessen“, glaubt auch Nikolaus Jedlicka. „Es darf einen nicht stören, viel zu riskieren und manchmal eben auch viel zu verlieren.“ Letzteres passiert dem 19-jährigen Wiener freilich überraschend selten – er gilt in der österreichischen Szene als eines der größten Talente. Auch er kam über das Internet zum Poker, auch er steht für den zeitgemäßen Ansatz: „Früher war Poker ein Sport für ältere Menschen, die halt möglichst ruhig dagesessen sind. Mittlerweile gibt es aber auch viele junge Spieler, die das Ganze ein wenig kreativer angehen. Da ist auch viel mehr Show dabei.“

So verändert sich mit dem Boom auch das Spiel selbst. Harald Casagrande, 38-jähriger Pokerprofi aus Linz, spricht von den „Internetkids“, die dem Poker ihren Stempel aufdrücken: „Sie sind ungemein schwer einzuschätzen, spielen ohne Furcht und haben zumeist im Internet schon sehr viel Geld verdient. Wenn sie jetzt auch bei Live-Turnieren antreten, geben sie richtig Gas. Es ist ein ganz anderes Spiel, als es früher war.“

Eines trifft aber nach wie vor zu: Turnierpoker ist enorm anstrengend, psychisch wie physisch. Der Oberösterreicher Erich Kollmann, seit sieben Jahren im internationalen Pokerzirkus unterwegs, erklärt, warum: „Poker ist ja kein reines Glücksspiel. Man muss taktieren, den richtigen Moment abwarten, ständig konzentriert sein. So ein Turniertag kann zwölf, manchmal auch 16 Stunden dauern. Sobald auch nur für einen Augenblick die Konzentration versagt, ist man weg.“

Die enormen Anforderungen an Konzentrationsfähigkeit und mathematisches Denken, die Poker auf gehobenem Niveau mit sich bringt, führten zu einem bemerkenswerten Phänomen: Quereinsteiger aus der Schachszene zählen – zumindest in Österreich und Deutschland – inzwischen zu den erfolgreichsten Pokerprofis. Josef Klinger etwa, einer der wenigen international bekannten österreichischen Pokerspieler, wurde in den achtziger Jahren noch als Schachwunderkind gehandelt. Mitte der neunziger Jahre stieg er aber auf das weitaus lukrativere Kartenspiel um.

Ganz ähnlich kam auch Ivo Donev zum Spiel mit den 52 Karten. In den neunziger Jahren spielte der gebürtige Bulgare, der seit 1990 in Bregenz lebt, noch Schach – in drei Bundesligen (der österreichischen, der deutschen und der Schweizer) gleichzeitig. Wirklich leben konnte er von den Preisgeldern trotzdem nicht, weshalb er es 1999 einmal beim Poker versuchte: „Ich habe gemerkt, dass Poker das einzige Kasinospiel ist, das kein reines Glücksspiel ist, sondern wo auch Können zählt.“ Donev arbeitete akribisch an seinem Spiel, studierte Strategie und Gegner – und wurde schon ein Jahr später für den Aufwand belohnt, als er überraschend ein Vorfeldturnier der World Series of Poker gewann und sich seitdem Pokerweltmeister im Limit Omaha (eine der zahlreichen Pokervarianten, siehe Kasten) nennen darf. Der Pokerboom hat für ihn sowohl positive als auch negative Seiten: „Vor sechs Jahren war es noch leichter, ein Turnier zu gewinnen. Heute gibt es viel mehr und viel bessere Spieler. Andererseits kommen auch tausende Anfänger dazu, die Pokern kurz im Fernsehen gesehen haben und auch mitspielen wollen. Da hat man natürlich mehr Chancen.“

Finessen.

Denn das Spiel bleibt, auch in seiner modernen, seriösen Form, ein trügerisches. Die heute beliebteste Disziplin, Texas Hold’em, ist auch für blutige Anfänger schnell zu erlernen. Die unzähligen taktischen Möglichkeiten und Finessen durchschauen aber nur langjährige Spieler. Schließlich ist es – gerade bei Texas Hold’em – durchaus möglich, auch mit den schlechtesten Karten am Tisch den gesamten Einsatz zu gewinnen. Meist genügt es, die Gegner richtig einzuschätzen und gegebenenfalls derart unter Druck zu setzen, dass sie ihre Nerven (und Karten) wegschmeißen. Im Gegensatz zu anderen traditionellen Kasinospielen wie Blackjack oder Roulette ist Poker damit auch lehr- und lernbar. „Auf lange Sicht minimiert sich der Glücksfaktor“, erklärt Donev. „Bei einem einzigen Spiel kann mit Glück auch ein Anfänger einen Weltmeister schlagen. Diese Wahrscheinlichkeit sinkt aber mit jedem Spiel. Auf lange Sicht gewinnt immer der bessere Spieler.“

Glück oder Können?

Dieser Überzeugung ist auch Peter Zanoni, der im Süden Wiens das Concord Card Casino, Europas größtes Pokerkasino, betreibt. Schon demnächst will er dafür auch den wissenschaftlichen Beweis vorlegen. Im Zuge einer notariell überwachten Studie sollen Anfänger, Amateure und Profis gegeneinander antreten und damit offiziell machen, was Zanoni, der seit Jahren um eine offizielle Anerkennung von Poker als Sportart kämpft, ohnehin schon längst weiß: „Das Lerngefälle ist enorm.“ Sprich: Nicht Glück, sondern Können ist für den Erfolg entscheidend. Zanonis Einsatz in der Angelegenheit ist freilich nicht ganz uneigennützig: Rechtlich ist die Unterscheidung zwischen Glücks- und Geschicklichkeitsspiel nämlich eine wesentliche, die Rechtsauffassungen darüber gehen trotz zahlreicher einschlägiger Urteile nach wie vor auseinander. Das Finanzministerium, welches das österreichische Glücksspielmonopol überwacht, beharrt darauf, dass Poker ein Glücksspiel ist und deshalb laut Glücksspielgesetz in Österreich nur in den Casinos Austria und auf dessen Online-Portal legal gespielt werden darf. Zanoni sieht die Sache, seitdem ihn das Bezirksgericht Innere Stadt im Mai 2005, nach zwölfjährigem Rechtsstreit, vom Vorwurf des illegalen Glücksspiels rechtskräftig freigesprochen hat, naturgemäß etwas anders.

Unstrittig bleibt derweil die Vorreiterrolle des Simmeringer Kasinobetreibers. „Als das Concord Casino in Wien eröffnet hat, haben sie in England noch gar nicht gewusst, was Pokern ist“, meint etwa der Turnierspieler Erich Kollmann. Dessen Kollege Casagrande pflichtet ihm bei: „Österreich hat in Europa beim Pokern ganz sicher die Nase vorn.“ Die ganz großen europäischen Stars kommen trotzdem anderswoher – aus Großbritannien, Skandinavien und den Niederlanden. Aber die Geschichte ist eben manchmal nicht nur ironisch, sondern auch ein wenig ungerecht.