Psychologische Basisstrategien

Michael Keiner
Poker-Experte
E-Mail: laserase@aol.com


Nachdem ich in den vorangegangenen Folgen die verschiedenen Spielstile analysiert und spezifische Strategien empfohlen habe, möchte ich mich abschließend 2 Sonderformen zuwenden, die nicht in die beschriebenen Schemata passen, aber doch recht häufig am Pokertisch vorzufinden sind. Es handelt sich um den Spieler im Lauf (Rush) und den Spieler „on tilt“. Hier sind die meisten Regeln außer Kraft gesetzt und beide Phänomene verlangen nach einer radikalen Anpassung Eurer Spielstrategie.

Der Spieler im Lauf (Rush)

Ganze Generationen von Pokerspielern haben in der Vergangenheit heftig diskutiert, ob es dieses Phänomen überhaupt gibt oder nur der menschliche Verstand versucht, einem Beobachtungsmuster, für das es scheinbar keine rationale Erklärung gibt, eine logische Beschreibung zuzuordnen. Als Erklärungsversuche wurden die Quantenphysik, energetische Mechanismen, gruppendynamische Prozesse und weit exotischere Begründungsvarianten zu Rate gezogen, aber ein logisches Modell, dass über die reine Beschreibung des Laufes hinausgeht und wissenschaftlichen Kriterien standhält, gibt es bis heute nicht.

Zur reinen Charakterisierung ist folgender Erklärungsansatz geeignet:

Die einzelnen aufeinanderfolgenden Pokerspiele sind voneinander unabhängige Ereignisse, die Karten haben kein Gedächtnis an das vorhergehende Spiel. Wenn auch im wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz die Qualität der Kartenverteilung auf die einzelnen Spieler bei einer genügend großen Anzahl der Stichproben gleich bleiben wird, bilden sich doch innerhalb des Beobachtungszeitraumes ungleichmäßige Begünstigungen oder Benachteiligungen von einzelnen Spielern aus.

Um das Ganze etwas banaler zu erklären, mache ich einen kleinen Ausflug ins Glücksspiel Roulette. Wenn ich 500.000 aufeinanderfolgende Würfe beobachte, werde ich ungefähr 50 rot und 50 schwarz als Ergebnis sehen, grob gerechnet (und natürlich abzüglich der grünen Zero) kommt rot also etwa jedes 2. Mal. Suche ich mir nun innerhalb dieser 500.000 Spiele einzelne Ereignisfolgen aus, kann ich durchaus Serien erleben, in denen 20 + Ergebnisse hintereinander rot aufweisen, weil die Kugel eben kein Gedächtnis hat.

Wenn ich 500.000 Texas Holdem an einem voll besetzten Tisch beobachte, wird jeder einzelne Spieler ungefähr jedes 221 mal Pocket Asse erhalten. Dabei kann es aber durchaus vorkommen, dass ein einzelner Spieler 3 mal hintereinander die Asse bekommt und dann die nächsten 700 Spiele in die Röhre schaut. Wenn ich dieses Beispiel konsequent in allen Variationen beleuchte, habe ich zumindest eine wissenschaftliche Beschreibung des Laufes, und wenn ich nur genügend Stunden am Pokertisch verbringe, werde ich dieses Phänomen auch häufig beobachten können.

Grundsätzlich ändert ein Spieler im Lauf nicht seinen natürlichen Spielstil. Der tighte Spieler wird weiterhin tight bleiben und die Chance des Jahres verpassen, der loose Spieler wird horrende Summen gewinnen und der neutrale Spieler wird sofort in den loose Modus umschalten. Ein Lauf kann 20 Minuten anhalten oder mehrere Tage, in seltenen Fällen sogar Wochen.

Wie passe ich nun meinen Spielstil an, wenn ich erlebe, dass ein Spieler offensichtlich den Lauf seines Lebens hat?

Preflop schalte ich in der Konfrontation mit ihm auf tight um und erhöhe die Qualitätsansprüche an meine Starthände auf premium. Wie Ihr in den übrigen Artikeln bemerkt habt, bin ich absolut kein Freund der passiven Spielweise, langfristig führt sie immer in die Verlustzone. Hier ist die Ausnahme von der Regel. Im Duell mit unserem Glückskind bevorzuge ich eine passive Strategie. Kritiker werden jetzt einwenden, dass ich auf diese Art und Weise meine Hände nicht genügend schützen kann, dem Laufspieler günstige oder kostenlose Turn- bzw. Riverkarten gebe.

Ich sehe das anders:

Spieler im Lauf zeichnen sich eh durch eine irrational hohe Trefferquote aus und wissen dies auch. Sie sind also oft bereit, Geld in den Pot zu bringen, das sich eigentlich nicht mehr mit Odds rechtfertigen lässt. Ein weiteres wichtiges Argument für die passive Spielweise verbunden mit der Tendenz den Pot klein zu halten, betrifft die Bluffthematik. Gute Spieler im Lauf nutzen Ihr Tableimage und bluffen oft. Dabei spielt die Pothöhe eine gewichtige Rolle. Je kleiner der Pot am River ist, desto stumpfer wird die Waffe des Bluffs für den Laufspieler.
Wie erkenne ich, wenn der Lauf eines Spielers zu Ende geht? Hier ein nicht ganz so rationales Beobachtungsmuster, das ich aber in über 12jähriger Spielpraxis immer wieder bestätigen konnte. Der Lauf endet meistens mit einem Paukenschlag. Oft geht der Spieler als Favorit ins Rennen und verliert einen riesigen Pot am River über einen „Bad Beat“. Danach ist der Lauf dann wie abgeschnitten.

Spieler „on Tilt“

Dieser Spielertypus gehört zu den beliebtesten Vertretern am Pokertisch, garantiert er doch dafür, dass selbst die langweiligste Partie plötzlich mit Action förmlich überflutet wird. Dementsprechend vielfältig sind die Synonyme für ihn: „steamen“, „heißlaufen“, „durchdrehen“, sind nur einige der Adjektive, mit denen man diese Leute schmückt. Auf jeden Fall sollen sie das gleiche Phänomen beschreiben.

Ein Pokerspieler fängt plötzlich an, mit völlig sinnlosen Spielzügen zu einer Art „Geldvernichtungsmaschine“ zu mutieren. Die psychologische Schwelle, ab der dieses Phänomen einsetzt, ist äußerst variabel. Bei manchen Menschen reicht ein Bad Beat aus, um ihn auf tilt zu bringen, andere verlieren stundenlang jede Hand gegen einen 2 outer und bleiben immer noch ruhig und besonnen. Auf jeden Fall verhalten sich Spieler „on tilt“ immer nach dem gleichen Reaktionsmuster. Preflop wird beinahe jede Hand geraist oder die Reraises von anderen Spielern werden mit unglaublich schlechten Starthänden bezahlt. Ein Spieler „on tilt“ verhält sich ungefähr so wie ein super loose Spieler, der jedoch unfähig ist, sich aus dem Spiel zu verabschieden, wenn er erkennen müsste, dass er chancenlos im Kampf um den jeweiligen Pot ist.

Im Livegame sind bei diesen Menschen meistens auch physiologische Veränderungen zu beobachten; manche entwickeln aufgrund des gestiegenen Adrenalinpegels eine rötliche Gesichtsfarbe, die Bewegungen werden hektisch und etwas zerfahren und die extrem verkürzten Reaktionszeiten während des Spiels sind ein gutes Indiz dafür, dass über den Spielzug einfach nicht mehr nachgedacht wird. Die Tiltphase eines Spielers endet auf 3 verschiedene Art und Weisen.

Erstens: Der Spieler gewinnt mehrere Spiele kurz hintereinander und hat seine vorherigen Verluste ungefähr ausgeglichen. Zweitens: Der Spieler verliert das gesamte Geld, was er bei sich führt, die Kreditkarte gibt auch nichts mehr her und keiner seiner Mitspieler ist bereit, ihm noch etwas zu leihen. Drittens: Das Casino schließt, bzw. die Partie wird beendet. Ich habe es eigentlich nie erlebt, dass ein Spieler on tilt freiwillig das Spiel beendet. Im Gegenteil, ich konnte schon oft beobachten, dass sehr gute Pokerspieler die gesamten Gewinne der letzten Monate und noch mehr in einer einzigen Nacht verloren haben, nur weil sie plötzlich durchgedreht sind. Viele mussten schließlich ihre Pokerkarriere beenden, nur weil sie diesen Zustand nicht unter Kontrolle bekamen.

Zur optimalen Strategie in der Konfrontation mit einem Tiltspieler gelten alle Punkte, die ich im Teil 2 der Serie „der loose Spielertypus“ aufgeführt habe. Ergänzen möchte ich die genannten Punkte noch um Folgendes: Wenn Ihr eine gute Hand haltet, versucht den Spieler on tilt durch ein kräftiges Raise bzw. Reraise zu isolieren, um mit ihm am Flop „Heads up“ zu kommen. Er wird Eure Wetten sowieso fast immer bezahlen und ihr schützt Eure Hand vor etwaigen Überraschungen durch Dritte.

Zum Abschluss noch eine Warnung: Versucht niemals, wirklich niemals, einen heißgelaufenen Spieler zu bluffen, Spieler on tilt sind absolut bluffresistent, da ihre Spielzüge sich von jeder Logik abgekoppelt haben.

Euer Michael