Psychologische Basisstrategien für ein erfolgreiches Pokerspiel

Michael Keiner
Poker-Experte
E-Mail: laserase@aol.com


Ständig lese ich in allen möglichen Foren und einschlägigen Fachmedien technische Analysen der verschiedensten Hände bei allen möglichen Pokervarianten. Aktionen werden diskutiert, stochastische Berechnungen bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma durchgeführt, Raise, Check-Raise, Calls und Folds empfohlen und anschließend wieder verworfen. Was ich bei all diesen Diskussionen vermisse, ist der Faktor Mensch. Poker ist ein höchst eigenwilliges und individuelles Spiel und jede technische Aktion, die noch so brillant kalkuliert wurde, wird versagen, wenn mir der falsche Mitspieler gegenüber sitzt. Oder um es etwas platter zu formulieren, möchte ich gerne einen berühmt berüchtigten Ausspruch von „Devilfish“ zitieren: „Never bluff a monkey.“

Die Internetrevolution des Spiels und ihre Folgen auf die Livegames haben dazu geführt, dass wir ständig neue Mitspieler um uns haben. War die Pokergemeinde vor einigen Jahren noch eine kleine verschworene Gemeinschaft, bei der sich zumindest auf europäischer Ebene die meisten Spieler persönlich kannten und man sich häufig des Spielstils, Stärken und Schwächen seines Gegenübers bewusst war, hat sich das Blatt heute völlig gedreht. Wenn ich jetzt an einen Tisch zu Beginn eines Turniers gelost werde, kann ich von Glück reden, wenn ich 2 oder 3 von 10 Spielern kenne. Ich habe also keine Ahnung, wie die anderen so drauf sind. Die alte Gleichung, unbekanntes Gesicht = keine Ahnung vom Poker, ist längst ad absurdum geführt.

Heute tauchen Kids auf, die ihr erstes Liveturnier spielen, aber schon 500.000 Hände Erfahrung am PC gesammelt haben. Diese Leute zu unterschätzen, ist ein krasser Fehler, den ich selbst auch lange begangen habe. Wie also kann ich mir relativ schnell, d.h. in 3 bis 4 Runden eine grobe Einschätzung über die Fähigkeiten meines Gegners verschaffen? Erschwerend kommt noch hinzu, dass gerade bei No Limit Holdem Turnieren zu Beginn relativ wenig Showdowns erfolgen, ich also relativ selten anhand der gezeigten Karten eine logische Schlussfolgerung durch Analyse der vorangegangenen Aktionen über die strategischen Fähigkeiten meines Gegners ziehen kann.

In der kommenden Serie möchte ich Euch einige Werkzeuge an die Hand geben, mit deren Hilfe Ihr relativ schnell bemerkenswerte Erkenntnisse über Euren Mitspieler sammeln könnt.

Poker, insbesondere No Limit Holdem ist ein ständiger Austausch von Informationen über das Plazieren von Einsätzen und fast jede Information kostet Geld oder Turnierchips. Man sollte seine Fragen also weise und mit Bedacht stellen. Umgekehrt gilt die Schlussfolgerung, dass die Informationen, die ich ohne eigenen Einsatz bekomme, doppelt wertvoll sind, was aber ein aufmerksames Beobachten des Tisches, auch wenn ich nicht am Spiel beteiligt bin, notwendig macht.

Der MP3-Player entspannt zwar schön und die Lektüre der Tageszeitung lenkt mich zwar von den extrem langweiligen Karten ab, die ich während der letzten 30 Minuten bekommen habe, aber gleichzeitig gehen mir wertvolle Infos über die Spielstile meiner Gegner verloren. Um das Ganze etwas zu systematisieren, muss ich mir bewusst sein, nach welchen Eigenschaften meiner Mitspieler ich überhaupt suche. Eine Grobeinteilung in 6 Kategorien reicht fürs Erste völlig aus. Um diese Bewertung durchführen zu können, muss ich nur 2 fundamentale Informationen auswerten können.

Der erste Punkt ist die Beteiligung am Spiel vor dem Flop. Wie jeder schon bemerkt hat, gibt es Leute, die rundenlang ständig ihre Karten wegwerfen, während andere fast jede Hand spielen. Um hier schnell eine Einteilung durchführen zu können, muss ich mir zunächst einmal die mögliche Verteilung aller Kartenkombinationen vor dem Flop beim Texas Holdem vor Augen führen. Eine genaue Einteilung in Startkategorien findet der interessierte Leser z.B. in dem Buch von David Sklansky und Mason Malmuth: „Holdem Poker“, dies näher zu erläutern, würde hier aber zu weit führen.

Wenn ich davon ausgehe, dass für alle Spieler die Kartenverteilung über einen längeren Zeitraum gleich ist und die Spanne von der besten Starthand (AA) bis zur schlechtesten (7 2) 100 beträgt, kann ich erwarten, in ca. 20 der Fälle eine sehr gute Starthand zu erhalten, die zumindest vor dem Flop 4/5 aller anderen Startkombinationen schlägt. Beteiligt sich ein Spieler vor dem Flop also nur jede 5. Hand oder noch weniger, bezeichne ich ihn als tight. Spielt er jede 3. bis 4. Hand, ist er für mich neutral und spielt er mehr als jede 3. Hand, ist er als loose zu bezeichnen. So weit so gut, jetzt hätte ich gerne noch einen Indikator für sein Verhalten während dem Spiel. Ist er jemand, der nur selten die Initiative ergreift, sich aber kaum abschütteln lässt? Oder versucht er sofort das Kommando zu übernehmen. Das Schlüsselwort heißt Aggressionspotential. Während ein Call eine passive Aktion darstellt, d.h. mein Mitspieler agiert durch eine Wette und ich reagiere durch Bezahlen, ist jedes eigene Anspiel oder jede Erhöhung eine aktive Handlung, bei er ich die Initiative ergreife. Ein Spieler bekommt für einen Call einen Minuspunkt, für einen Bet oder Raise einen Pluspunkt. Ein Check-Raise ist eine besonders aggressive Handlung, deshalb vergebe ich dafür 2 Pluspunkte. Ergibt sich in der Summe ein negativer Wert, ist der Spieler als passiv anzusehen, ist das Vorzeichen +, ist er aktiv.

Kleiner Tipp am Rande: Kommt bloß nicht auf die Idee während einer Partie Stift und Papier auszupacken, um Eure Mitspieler zu kategorisieren. Das ist außerordentlich schädlich für Euer Image am Tisch und mit etwas Training sollte das auch im Kopf klappen.

Wir haben also insgesamt 6 Spielstile: Tight passiv oder aktiv, neutral passive oder aktiv und loose passiv oder aktiv.

In den kommenden Fortsetzungen dieser Serie werde ich auf die einzelnen Spielstile und adäquate Anpassungen genauer eingehen. Generell trifft diese Einteilung für die überwiegende Zahl an Spielern zu, aber Vorsicht: Es gibt einige wenige Topspieler, die in der Lage sind, Ihren Spielstil blitzschnell zu ändern und damit beim aufmerksamen Beobachter nichts als Verwirrung auszulösen. Generell gehören diese Leute aber niemals zur passiven Gruppe.

Unter diesen Gesichtspunkten muss sich jeder bewusst sein, dass er selbst ebenfalls unter ständiger Beobachtung durch zumindest den aufmerksamen Teil der Mitspieler steht. Bevor ich also anfange, meine Mitspieler zu kategorisieren, muss ich zunächst mein eigenes Spielverhalten einer objektiven Analyse unterziehen, um festzustellen, wie mich die Gegner wahrnehmen, wie mein eigenes Tableimage rüberkommt.

Euer Michael