Generalanwalt Bot bestätigt ausnahmslosen Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Sozietät Redeker Sellner Dahs
Willy-Brandt-Allee 11
D - 53113 Bonn
Paukenschlag aus Luxemburg

Die Schlussanträge des Generalanwalts Bot im Verfahren Winner Wetten (C-409/06) beantworten die Vorlagefrage des Verwaltungsgerichts Köln mit überraschender Eindeutigkeit. Ohne Wenn und Aber bestätigt Bot den ausnahmslosen Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht. Der Generalanwalt folgt damit der Europäischen Kommission, und nicht den Mitgliedstaaten, die durchweg für eine Anerkennung von Ausnahmen plädiert hatten.

Die gegenteilige Rechtsauffassung des OVG Münster und des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, die dafür herleiten musste, in der Übergangszeit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bis zum 31.12.2007 die Vollziehung gemeinschaftsrechtswidrigen Rechts zu ermöglichen, wird verworfen. Namentlich die Beschlüsse des OVG Münster hatten seinerzeit unter Europarechtlern bundesweites Kopfschütteln hervorgerufen, weil sie einen grundlegenden Bruch mit dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts bedeuteten.

Obwohl sämtliche Mitgliedsstaaten in der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof eine solche Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts befürwortet haben, stellt sich Generalanwalt Bot dem mit seinen Schlussanträgen mit eingehender und sorgfältiger Argumentation entgegen (Rn. 83-121). Er bestätigt dabei alle Einwände, die in zahlreichen Verfahren in der Folgezeit namentlich dem OVG NW entgegengehalten wurden, von diesem aber stets verworfen worden sind.

Es ist wahrscheinlich, dass der Europäische Gerichtshof sich dem anschließen wird. Denn die europarechtliche Tragweite einer den Schlussanträgen entsprechenden Entscheidung des EuGH weist weit über den Sonderfall des Glückspiels hinaus. Überzeugende rechtliche Gründe, die für eine durch die mitgliedsstaatlichen Gerichten festzustellende Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts sprechen könnten, waren von jeher nicht ersichtlich und sind vor dem EuGH ebenfalls nicht vorgebracht worden. Auch politische Erwägungen, die das Gericht veranlassen könnten, eine solche gemeinschaftsrechtliche Kehrtwende zu vollziehen und damit den Mitgliedsstaaten und ihren Gerichten insoweit mehr Raum zu lassen, sind nicht ersichtlich. Zu viel steht gemeinschaftsrechtlich auf dem Spiel, könnte eine solche Bresche doch über kurz oder lang die Rechtseinheit in der Union untergraben.

Dass das Interesse der Mitgliedsstaaten – und auch der Bundesregierung – in eine andere Richtung wies, liegt nahe. Auch für andere Rechtsbereiche hätte man sich eine solche Ausnahme von Seiten der Bundesregierung wohl gewünscht. Dass ausgerechnet der als eher etatistisch geltende Yves Bot, der seine Abneigung gegen das Glücksspiel in all seinen Erscheinungsformen in den Schlussanträgen zu Liga Portuguesa unverhohlen zum Ausdruck gebracht hat, mit so klaren Worten im Sinne des Gemeinschaftsrechts Stellung bezieht, ist bemerkenswert.

Bot wäre nicht Bot, wenn er nicht zugleich versuchte sicherzustellen, dass nicht der Eindruck entsteht, er hätte das Lager gewechselt. Wortreich legt er dem EuGH nahe, dem Veraltungsgericht Köln Hinweise auf den Weg zu geben, dass es seine Prämisse der Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht überprüfen möge. Der Fall selbst gibt dazu keine Veranlassung. Denn insoweit waren sich VG Köln und OVG Nordrhein-Westfalen damals einig. Und nur die damalige Lage ist insoweit maßgeblich. Eine Änderung der gemeinschaftsrechtlichen Beurteilung der Übergangsrechtslage dürfte sich daraus mithin auch dann nicht ergeben, wenn der EuGH die Empfehlung von Bot mit einem entsprechenden Hinweis aufgreift.

Weniger überraschend ist es, dass die Prozessbevollmächtigten der Stadt Bergheim (Rechtsanwälte CBH) als erste wortreich versuchen, die Schlussanträge in ihr Gegenteil umzudeuten. Die eigentliche Antwort des Generalanwalts geht unter in einer Fülle an anderen Überlegungen, die den Schlussanträgen entnommen werden sollen (Ziffer 6.) und findet dann erst abschließend Eingang in den Schlussabsatz, mit dem eingeräumt wird, dass der Argumentation, mit der die Stadt Bergheim und das Oberverwaltungsgericht Münster angetreten sind, „eine klare Abfuhr erteilt“ wurde.

Die rechtliche Bedeutung einer entsprechenden Entscheidung des EuGH in Deutschland lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Das OVG NW und das Sächsische OVG haben mit ihrer Eilrechtsprechung in den Jahren 2006 und 2007, mit der sie sämtliche Ordnungsverfügungen, die in Nordrhein-Westfalen und Sachsen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.03.2006 bis zum 31.12.2007 ergangen sind, zwar als gemeinschaftsrechtswidrig erkannt, aber gleichwohl ihre sofortige Vollziehbarkeit bestätigt haben, gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen.

2. Die Eilentscheidungen der Verwaltungsgerichte Aachen (6.Kammer), Arnsberg, Köln und Minden, die dem nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgericht seinerzeit mutig entgegengetreten sind, werden nachträglich bestätigt. Auch der Unterzeichner sieht sich bestätigt, der mit einem umfassenden Gutachten gemeinsam mit Rechtsanwalt Dr. Winkelmüller für den Verband Europäischer Wettunternehmer bereits im April 2006 dargelegt hatte, dass aus dem Befund des Bundesverfassungsgerichts in verfassungsrechtlicher Hinsicht sich auch die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit ergebe und die Übergangsregelung selbst daran nichts zu ändern vermöge.

3. Den Betreibern der entsprechenden Wettbüros, die wegen dieser Rechtsprechung geschlossen werden mussten, stehen voraussichtlich Schadensersatzansprüche zu, wenn der EuGH den Schlussanträgen entsprechend entscheidet.

4. Offen bleibt, wie die Hauptsacheverfahren gegen die entsprechenden Untersagungsverfügungen ausgehen. Das Verwaltungsgericht Köln beurteilt die Rechtmäßigkeit nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Widerspruchsbescheide, die aber in vielen Fällen in Nordrhein-Westfalen erst nach Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages ergangen sind. Aber selbst für Widerspruchsbescheide, die schon vor Ablauf der Übergangszeit ergangen waren, ist zu berücksichtigen, dass das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in anderen Verfahren durch Hinweise angedeutet hat, es werde die Untersagungsverfügungen als Dauerverwaltungsakte ansehen, bei denen auch die Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen sei. Damit hängt der Ausgang der ordnungsrechtlichen Klageverfahren insoweit vermutlich durchweg davon ab, wie der EuGH die Vorabentscheidungsersuchen der Verwaltungsgerichte Gießen, Schleswig-Holstein und Stuttgart beantwortet.

5. Auch die Beurteilung der wettbewerbsrechtlichen Untersagungsverfahren in Nordrhein-Westfalen und Sachsen, für die die Übergangsrechtslage maßgeblich ist, muss zugunsten der angegriffenen Anbieter überdacht werden.

6. Die staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren und strafgerichtlichen Klageverfahren, für die die Übergangsrechtslage maßgeblich ist, bedürfen der Einstellung.

7. Die Schlussanträge bestätigen die ausschließlich verfassungsrechtliche Bedeutung der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses war zwar angetreten, eine umfassende Klärung der Rechtslage in Bezug auf Sportwetten herbeizuführen. Es hat die fehlende Systematik und Kohärenz der deutschen Sportrechtslage in verfassungsrechtlicher Hinsicht für die Vergangenheit bis zum Sportwettenurteil bestätigt und damit auch deren Gemeinschaftsrechtswidrigkeit. Die Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts hat die vom Bundesverfassungsgericht selbst aufgezeigten Mängel der Systematik und Kohärenz der Regelungen und Praxis für Sportwetten in dessen nicht ausgeräumt, sondern nur Schritte zu deren Beseitigung aufgezeigt, von denen die Vollziehbarkeit von Untersagungsverfügungen abhängen sollte. Gemeinschaftsrechtlich genügt dies indessen nicht. Für das Gemeinschaftsrecht kommt es, wie Bot zu Recht hervorhebt, ausschließlich darauf an, ob Rechtslage und Praxis eine systematische und kohärente Eindämmung der Wettleidenschaft gewährleisten. Davon konnte seinerzeit keine Rede sein, wie das nordrheinwestfälische und sächsische Oberverwaltungsgericht seinerzeit angesichts der damals aufgezeigten Defizite selbst feststellen mussten.

Insgesamt setzt Generalanwalt Bot mit seinen neuen Schlussanträgen zu Winner Wetten nach den niederländischen Vorlageverfahren Betfair und Ladbrokes eine weitere Duftnote, die den Ländern vor Augen führt, auf welch schmalem Grat sie sich bewegen.